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Der Autor liest

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Bonn in den späten sechziger Jahren, Österreich-Abend bei „Inter Nationes", Ingeborg Bach­mann ist zu einer Lesung angesagt. Der Saal ist brechend voll, das Pu­blikum beginnt unruhig zu werden, um 20 Uhr wollte man beginnen, jetzt ist es halb neun - und von der Autorin keine Spur. Die Zuhörer können nicht ahnen, was sich hin­ter den Kulissen abspielt: Ingeborg Bachmann und die Organisatorin der Veranstaltung klappern in pa­nikartiger Hetzfahrt per Taxi die nachtdienstbereiten Apotheken der Bundeshauptstadt ab. Überall werden sie abgewiesen - schließ­lich findet sich doch noch eine gute Seele, die der Dichterin, um den Abend zu retten, jenes Weckamin ausfolgt, das ihr Auftreten vor Publikum erst möglich macht.

Szenenwechsel: Göttingen, Som­mer 1989, Günter Grass liest die „Blechtrommel". Und nicht etwa ein paar Kostproben, sondern den kompletten, 724 Buchseiten langen Text. 28 Stunden, auf zwölf Aben­de aufgeteilt, Literatur en suite. Das Kleine Haus des „Deutschen Thea­ters" ist allabendlich ausverkauft. Was ist los - lassen sich nun auch schon seriöse Künstler für die Wettbewerbsrituale des „Buches der Rekorde" einspannen? Der Fall liegt anders: Grass könnte, seine Mammutlesung, die auch über den Rundfunk ausgestrahlt und vor allem auf CD-Kassette gespeichert wird, ebensogut im Tonstudio ab­wickeln. Doch er tut es im Theater, tut es vor Publikum. Denn er weiß, dann wird's besser.

Zwei Extrembeispiele zum The­ma „Wie hältst du's mit der Rezita­tion?": Marter für den einen, für den andern höchste Lust. Vor Pu­blikum zu lesen, hat immer auch mit Selbstdarstellung zu tun. Nicht umsonst hat sich für Startveran­staltungen der Branche der dem Theater eptlehnte Begriff „Buch­premiere" eingebürgert - mit al­lem, was dazugehört: vom Lam­penfieber (das Martin Walser, wie er einmal gestanden hat, mit einem „Anästhesie-Schoppen" aus zwei bis drei Vierteln Rotwein nieder­kämpft) bis zum Applaus, vom Kostüm (Andre Kaminski ent­schließt sich, als er sich für seine erste große Lesereise rüstet, zum Kauf einer Lederjacke: „Berühmte Leute tragen Lederjacken!") bis zur ausgeklügelten Dramaturgie, die den vorzeitigen Abbruch ebenso einkalkuliert wie die Zugabe. Au­ßer sich vor Glück berichtet Eva Demski, wie ein dem Scheitern naher Abend von einem dünnen Stimmchen aus der letzten Reihe gerettet wird: „Bitte, bitte, noch ein bißchen weiterlesen!"

Es gibt Schriftsteller, die bis zu 150 Auftritte im Jahr absolvieren. Man fragt sich, wann sie schreiben. Wahrscheinlich unterwegs. Und auch der Kreis der Veranstalter wird laufend größer. Mit literarischen Zirkeln fing es anno dazumal an: weihevoll, Rilke wahrhaftig noch mit Frack und weißen Glacehand­schuhen, Thomas Mann mit seiner berühmten Schlußformel „Und nun, meine Damen und Herren, eine gute Nacht!"; später schlössen sich Volkshochschulen und Bildungs­werke an: stramm didaktisch; ver­armte Schloßherren witterten Sub­ventionsspritzen, florierende Spar­kassen Gewinnabschreibungen, und bald gab's kein Fleckchen mehr im Lande, wo nicht ein Barde die Laute schlug: Galerien und Confi-serien, Kasernen und Tavernen, Kirchen und Kerker, U-Bahn-Sta­tionen und U-Bahn-Züge, Straßen und Plätze, Felder und Wälder, Brücken und Bunker, zu Lande, zu Wasser und in der Luft.

Früher war dem Schriftsteller, wenn er in die Jahre kam, bange, daß ihm eines Tages nichts mehr einfällt. Und daß es mit dem Schreiben aus ist. Heute ist ihm bange, daß er seine Stimme verliert. Denn zur öffentlichen Lesung kommen auch noch Radiovortrag und Ton­kassette, Videoclip und Literatur­telefon. Und das bedeutet für den Autor nicht nur ein Mehr an Arbeit, sondern auch ein Mehr an Risiko. Er muß dafür mancherlei in Kauf nehmen /■ ich könnte leicht einen ganzen Abend damit bestreiten, nur von solchen Zwischenfällen, Pan­nen, Katastrophen zu berichten. Einige wenige greife ich heraus.

Meran, Lesung in der dortigen Urania. Effektvolle Vorauswer­bung, ein schöner Saal, reichliches Publikum von der freundlichsten Art, gut bestückter Büchertisch -was konnte da noch schiefgehen? Dies: Der in Ehren ergraute Haus­herr, dem es oblag, die einführen­den Worte zu sprechen, verwech­selte mich mit einem (mir fremden) anderen, begrüßte und lobpries mich beharrlich als einen, der ich nicht bin, und was das Schlimmste war: Ich weiß bis heute nicht, ob der Tausch schmeichelhaft für mich war oder eine Schmach („Herr Hirsch" nannte er mich, aber Hirsch gibt's viele, welchen mag er gemeint haben?).

Oder jene Sonntagsmatinee im Rathaus einer ansonsten bezau­bernden Kleinstadt, vor deren Beginn mich der Kulturreferent diskret zur Seite nahm, einen be­deutsamen Blick auf seine Uhr warf und mir gütig-streng einschärfte: Bitte achten Sie darauf, daß Sie vor zwölf mit Ihrem Programm durch sind. Um zwölf läuten bei uns die Glocken, die Kirche ist gleich vis-ä-vis, es ist das mächtigste Geläut der Diözese. Von zwölf bis viertel eins kann hier ein Erdbeben aus­brechen und kein Mensch wird es hören.

Meine Darbietung mit der örtli­chen Seelsorge koordinieren zu müssen, verlangte mir das Äußer­ste ab. Um elf sollte es losgehen, um halb zwölf kamen immer noch Nachzügler. Ich raste durch meine Texte, improvisierte die waghal­sigsten Striche, reduzierte meine Blickkontakte zum Auditorium bis an die Grenze der Menschenverach­tung - und schaffte es wahrhaftig, eine Minute vor zwölf ein fulmi­nantes Finale hinzulegen. Ich konn­te aufatmen. Nun mochten sie so viel dröhnen, wie sie wollten, die Glocken von St. Jakob! Nur - sie dröhnten nicht. Nicht einmal bim­meln taten sie. Der Papst war vor drei Tagen gestorben, man trug Trauer, das Glockenspiel fiel aus.

Oder jener oberösterreichische Marktflecken, wo mir die Stimme abhandengekommen war - über Nacht. Es war die fünfte Station einer Lesetournee, für den kom­menden Abend war mein nächster Auftritt vorgesehen, die Volkshoch­schule hatte Plakate af f ichiert, die Buchhandlung ein Sonderschau­fenster spendiert, der Korrespon­dent der Landeszeitung war zum Interview angesagt - und ich ohne jedes Sprech vermögen, stumm. Totalausfall - der nächste HNO-Arzt mußte her. Der freundliche Mediziner versprach Abhilfe und verordnete eine Roßkur: Cortison -von innen und von außen. Zur zweiten Behandlung solle ich ge­gen Mittag wiederkehren, zur drit­ten und letzten kurz vor Ordina-tionsschluß.

„Nur bitte nicht zu spät", schärf­te er mir ein. „Meine Frau und ich wollen nämlich am Abend zu einer Autorenlesung."

Ich blickte verzückt auf - fast hätte diese Mitteilung genügt, mir die verlorene Sprache wiederzuge­ben. Frohlockend drang ich in meinen Retter, mich selber unwis­send stellend und auf eine trium­phale Pointe hinarbeitend: „Wie interessant - wie heißt denn der Autor?"

Antwort: „H. C. Artmann. Erliest in Linz."

Es kommt mir noch heute wie ein Wunder vor, daß ich damals, trotz jenes Schocks, am Abend vollfit war. Schriftsteller, die mit ihrem Musterköfferchen, mit ihrer neue­sten Kollektion unterwegs sind, dürfen nicht zimperlich sein.

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