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Der Beinahe-Irrtum

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IST der •FrelsPruc*1 des Walter Nicki ein beweis für die Funktionsfähigkeit der österreichischen Geschworenenjustiz? Wir sollten uns sehr hüten, dies in diesem Prozeß zu sehen. Es wäre sehr gefährlich. Denn eine solche Verallgemeinerung würde zu einer weiteren Verallgemeinerung herausfordern. Nämlich zu der Behauptung, der Mordprozeß von Leobeh habe auch die Unfähigkeit der österreichischen oder zumindest der steirischen Gendarmerie als Organ zur Aufklärung von Bluttaten und die Blindheit der österreichischen Staatsanwälte für die Haltlosigkeit von Beschuldigungen erwiesen. Es wird für den Ruf unserer Exekutive und unserer Justiz als ganzes also besser sein, in .diesem Prozeß einen Einzelfall zu sehen, den man nicht verallgemeinern darf.

Anderseits: Eine sehr ähnliche Konstellation hat schon vor einiger Zeit in einem anderen Bundesland ebenfalls zu einem Prozeß geführt, der niemals hätte eröffnet werden dürfen.

Es gibt sehr gute Gründe dafür, daß Geschworenenprozesse in unseren Breiten fast immer mit der Verurteilung des Beschuldigten enden. Das liegt keineswegs an der Verurteilungsfreudigkeit unserer Geschworenen, sondern daran, daß die Erhebung einer Anklage in allen Fällen, fast immer und überall, eine sehr schwerwiegende Vorentscheidung bedeutet.

Natürlich gibt es die „spannenden Fälle“ mit der echten Unklarheit, ob das Beweismaterial ausreichen, ob es in den Augen der Geschworenen, ob es den Argumenten und Beweisanträgen der Verteidigung standhalten wird. Was es aber nicht geben darf und nicht geben sollte: Die Behelligung von Geschworenengerichten mit „Beweisketten“, die keine sind, mit „Indizien“, die jeder Nachwuchskriminalbeamte sofort als das erkennen müßte, was sie wirklich sind: Hinweise darauf, wo man mit weiteren Nachforschungen Erfolg haben könnte, die aber für sich allein zuwenig sind, zu Beweisen nicht aufgeblasen werden können und dürfen. Genau das aber ist in Leoben (und auch schon anderswo in Osterreich) geschehen.

Was auf dem Niveau der Gendarmerie vielleicht mit notorischem Ubereifer oder Erfolgsdruck erklärt werden könnte, wird unverzeihlich, wenn es der Anklagebehörde, der Staatsanwaltschaft, unterläuft Unverzeihlich nicht nur, wenn man die Sache aus der Perspektive des Beschuldigten betrachtet. Unverzeihlich auch deshalb, weil gerade dieses aus der Kriminalgeschichte wohlbekannte Sich-Verbeißen in den ersten besten Verdächtigen, dieses Sich-Festkrallen in der ersten lockenden Spur, dazu führt, daß der Fall als gelöst betrachtet wird und die Suche nach weiteren Verdächtigen unterbleibt. Wenn der Vorsitzende des Geschworenengerichtes den selbstverständlichen Freispruch verkündet, ist es meistens viel zu spät, mit der kriminalpolizeilichen Ermittlung von vorne zu beginnen. Die Spuren sind verwischt.

Hätte die Justiz vor Fehlurteilen soviel Angst wie die Fluggesellschaften vor Abstürzen, würde sie derartige Vorfälle so genau untersuchen wie jede bessere Airline jene Zwischenfälle, die leicht zu einem Unglück hätten führen können. Nicht, um einen Verantwortlichen zu bestrafen, sondern um daraus zu lernen. Allerdings: Die Lektion von Leoben zu lernen, hätte die Justiz schon ziemlich oft Gelegenheit gehabt. Gewisse Formen von Fehlverhalten, die immer wieder zu Justizirrtümern geführt (oder beigetragen) haben, scheinen allerdings in Leoben in besonders, nun, sagen wir: intensiven Formen vorgekommen zu sein.

So zum Beispiel die Ausflucht zu den berüchtigten „psychologischen Indizien“, die immer dort herhalten müssen, wo das Beweismaterial nicht ausreicht, sich aber jemand von einer haltlos gewordenen Anklage um keinen Preis trennen will. Sei es der Vertreter der Anklage, seien es Zeugen, die an der „Aufklärung“ des Falles beteiligt waren und wenig Wert darauf legen, öffentlich desavouiert zu werden.

Es ist ein Skandal (aus dem Lehren zu ziehen wären!), wenn Kriminalbeamte vor Geschworenen Geschichtchen zum besten geben dürfen, sie hätten „aus der Bevölkerung gehört“, der Angeklagte sei „lange nicht so gutmütig, wie er aussieht“, ohne daß sie sofort in die Schranken gewiesen werden. Freilich — sie wissen nicht, was sie tun, und wären drum an den etwaigen Folgen eines solchen Verhaltens nur mit-, nicht aber alleinschuldig. Denn sie haben zwar eine „Ausbildung genossen“, aber das Wort „psychologische Indizien“ wohl noch nie gehört.

Viele Menschen wurden Opfer von Fehlurteilen, weil sie „unsympathisch“ waren, weil Geschworene sich einreden ließen, sie hätten den „Blick von Mördern“, weil sie bei der Einvernahme bis über die Ohren erröteten, weil sie stotterten, weil sie in ihrer Verzweiflung Zuflucht zu Lügen nahmen.

Ein Karl Harter aus Großsiegharts starb einst im Gefängnis und wurde erst posthum (als der wirkliche Täter erwischt wurde) rehabilitiert. Er wurde für den Täter gehalten, weil er „höhnisch lächelnd“ an den Leuten vorbeigegangen war, die sich vor dem Haus einer ermordeten Ladenbesitzerin versammelt hatten, und weil er der Freund einer ebenfalls verdächtigen, ebenfalls verurteilten, ebenfalls schuldlosen, „übelbeleumundeten“ Frau gewesen war. In Kanada verbüßte vor Jahren der minderjährige Steven Truscott viele Jahre im Gefängnis — er war ursprünglich als angeblicher Mörder einer Mittelschülerin sogar zum Tod verurteilt worden. Die Beweise waren genausowenig wert wie die von Leoben. Aber die Presse hatte ein wahres Lynchklima gegen den Angeklagten entfesselt. Und die Geschworenen glaubten alles, was der Ankläger sagte.

Die Geschworenenjustiz ist eine Errungenschaft der Französischen Revolution. Sie war gegenüber der vorher gehandhabten kamerali-stischen Justiz ein Fortschritt. Aber ein Richter, ein Staatsanwalt, aber auch ein Kriminalist, der seinen Beruf ernst nimmt und ein Gefühl für seine Verantwortung hat, sollte nie vergessen, daß bereits der erste große Geschworenenprozeß der Geschichte zu einem Fehlurteil führte, das zur Vollstreckung mehrerer Todesurteile an Schuldlosen führte.

Unter ihnen der Kaufmann Lesur-ques, der bei einem zufälligen Aufenthalt im Gerichtsgebäude von einem Zeugen „erkannt“ wurde. Sein Alibi hat, wie man heute weiß, hundertprozentig gestimmt. Aber die Glaubwürdigkeit seines Alibizeugen wurde erschüttert, weil man in dessen Geschäftsbüchern eine Radierung entdeckte (was damals noch viel häufiger vorkam als heute).

Wenn man sich mit der Geschichte des Justizirrtums beschäftigt, ist man erschüttert darüber, daß immer wieder dieselben Ursachen zu Fehlurteilen führen. Immer wieder dieselben Ursachen, und oft immer wieder in denselben Kombinationen. Das Festbeißen auf den erstbesten Verdächtigen, die Vernachlässigung der Suche nach anderen Spuren, die Fehlinterpretation naturwissenschaftlicher Indizien (die bei richtiger Handhabung besser sind als jeder Augenzeugenbeweis), die psychologischen Indizien (die auch im Fall Vera Brünne eine verhängnisvolle Rolle spielten) — sie kommen immer wieder in einem Fall zusammen. Und führen immer wieder zu Fehlurteilen.

In dieser Beziehung unterscheiden sich Fälle vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts kaum von denen des neunzehnten oder zwanzigsten. Wobei wir in Österreich sogar so etwas wie Stolz empfinden dürfen: Auch Österreich hat etliche Fehlurteile erlebt, auch seit 1945, doch ist die Wiederaufnahme des Verfahrens bei uns leichter zu bewerkstelligen als etwa in der Bundesrepublik. Bestes Beispiel auch hier: Vera Brühne. Niemand kann wissen, ob sie etwas mit dem Mord an Dr. Praun zu tun hatte. Eines aber liegt sonnenklar zutage: Es wurde ihr nichts bewiesen.

Und es gibt kein anderes Kriterium für Schuld oder Unschuld eines Menschen. Sein Aussehen, sein Ruf, sein Erröten, sein Charakter hat keine Rolle zu spielen. Es zählt nur der Beweis.

In Leoben wurde genau dies von den Initiatoren dieses Prozesses wieder einmal vergessen. Die Sache ist noch einmal gut gegangen. Dank dem Gericht. Die Geschworenen haben erkannt, daß die angeblichen Beweise keine waren. Trotzdem sollten Lehren aus diesem Fall gezogen werden. Notfalls sehr unbequeme Lehren.

Und zwar vor allem auf der Ebene der kriminalistischen Aufklärung. Und auch auf der Ebene der Staatsanwaltschaft. Ein Beinahe-Zusam-menstoß hat sich ereignet. In der Luftfahrt führen Beinahe-Zusam-menstöße zu Maßnahmen zur Verhinderung von Zusammenstößen. Die Justiz sollte es auch so halten.

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