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Der Blick hinter rote Ostkulissen

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Wer einen Einblick auch in das inoffizielle Leben eines Alt-KP-Funktionärs gewinnen möchte, erhält ihn durch ein Buch, in dem Andräs Hegedüs seine Erinnerungen ausbreitet.

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Wer einen Einblick auch in das inoffizielle Leben eines Alt-KP-Funktionärs gewinnen möchte, erhält ihn durch ein Buch, in dem Andräs Hegedüs seine Erinnerungen ausbreitet.

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Er war einst mit seinen 34 Jahren Europas jüngster Regierungschef: Andräs Hegedüs - vom 18. April 1955 bis 23. Oktober 1956 ungarischer Ministerpräsident. Er war es, der in der denkwürdigen Aufstandsnacht in Budapest in der hermetisch abgeriegelten Parteizentrale gemeinsam mit KP-Chef Ernö Gero die Sowjets offiziell ersuchte, die Demonstration auf den Straßen mit Waffengewalt niederzuschlagen.

Und die Sowjets kamen. Durch ihr Eingreifen weitete sich jedoch der Budapester Aufstand zum allgemeinen Freiheitskampf aus, der sich rasch über das gesamte Land ausbreitete und Moskau letzten Endes zwang - wenn auch nur für kurze Zeit — einen politischen Rückzug anzutreten.

Diese spezifische Art der Verwirrung der Macht erlebte Andräs Hegedüs allerdings nicht mehr in Budapest. Mit Gero und anderen kompromittierten KP-Funktionären mußte er nicht nur seinen Posten räumen, sondern auch Ungarn verlassen. Eine sowjetische Militärmaschine flog die abgewirtschafteten Politiker nach Moskau, wo ihnen — in jeder Hinsicht — ein würdiges Asyl gewährt wurde.

Hegedüs wurde 1958 erlaubt nach Ungarn zurückzukehren, wo ihm—in der konsolidierten Lage — ein Staatsposten angeboten wurde. Er jedoch lehnte dieses Angebot ab: Er hatte im sowjetischen Exil mehr Zeit (und Muße), die politischen Geschehnisse in Ungarn zu überdenken. Der Bauernsohn aus West-Ungarn ging daran, reinen Tisch mit seiner Vergangenheit zu machen.

Er widmete seine Zeit der Soziologie, wurde Direktor der Soziologischen Forschungsgruppe der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und — als er in dieser Eigenschaft eigene Wege ging — „umgeteilt“ in eine andere Forschungsgruppe—allerdings schon nicht in Chefposition.

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre begann Hegedüs' Abkehr von der offiziellen Parteilinie. An Hand der ihm zugänglichen Dokumente überdachte er 'seine eigene politische Rolle vor und unmittelbar beim Ausbruch des Volksaufstandes 1956 und kam zu folgendem Schluß: Die Partei hatte gegen das Volk regiert, die nationale Erhebung war historisch betrachtet berechtigt.

In der Folge engagierte sich Hegedüs zunehmend für die politischen Dissidenten (allerdings nur von der kommunistischen Szene), er unterzeichnete Protestbriefe zuhanden der Parteispitze (z. B. wegen der Warschauer-Pakt-Invasion der CSSR 1968) und begann seine Ideen von einem „reformwürdigen Sozialismus“ auszuarbeiten.

Auf seinen Ausschluß aus der KP und den darauffolgenden Verlust seiner Anstellung an der Akademie der Wissenschaften im Jahre 1973 reagierte Hegedüs damit, daß er sich als Frührentner pensionieren ließ — mit der ihm als Mitglied der illegalen KP während der Horthy-Zeit zustehenden Sonderprämie. Den Status eines Parteilosen nahm er gerne an — wie er später in einem „Spie-gel“-Interview betonte.

Seither lebt Andräs Hegedüs in Budapest, verfaßt soziologische Bücher, die im westlichen Ausland verlegt werden, und wenn die Behörden ihm die Möglichkeit zur Ausreise erteilen, hält er Vorträge in West-Europa, wo er grundsätzlich gerne gesehen ist.

Das vorliegende Buch - mit dem in Wien lebenden Soziologen und Dissidenten Zoltän Zsille zusammen herausgegeben — ist an sich eine seltene Art von Publikation: Zsille fragt und Hegedüs antwortet. Beide bemühen sich dabei, dem Leser ein wahrheitsgetreues Bild zu vermitteln. Zsilles politisch engagierte Fragen visieren ins Zentrum des Themas. Hegedüs' Antworten — durchdacht und mit starken persönlichen Noten versehen — nehmen nur in Ausnahmefällen zu Ausreden Zuflucht. So entstand in bemerkenswerter Teamarbeit ein 350 Seiten starkes Buch, durch das der Leser nicht nur Einblick in das inoffizielle Leben eines Alt-KP-Funktionärs erhält, sondern auch Hinweise darüber vermittelt bekommt, wie dieser Mann die Zukunft des

„real existierenden Sozialismus“ östlicher Prägung sieht.

Das Buch gibt keine Staatsgeheimnisse preis, aber'doch einige Begebenheiten, die bisher wenig bekannt waren. So zum Beispiel über das Ausmaß des Polizeiterrors in Ungarn unter Parteisekretär Räkosi, von dem nicht weniger

— direkt oder indirekt — als ein Viertel der Gesamtbevölkerung Ungarns (also 2,4 Millionen Menschen) betroffen war.

Aufstand statt Jubel

Dieser Polizeiterror machte auch vor den Würdenträgern der herrschenden Partei keinen Halt. Selbst Mitglieder des Politbüros lebten in Angst davor, daß sie — wenn die Parteiräson es verlangt

— über Nacht zum „Volksfeind“ gestempelt und — mit oder ohne Prozeß — ins Gefängnis gesteckt würden. Hegedüs spricht auch über die zahllosen materiellen Vergünstigungen der Machthaber, die—vom Alltag der Bevölkerung hermetisch abgeschirmt — nicht wußten, wie Land und Leute tatsächlich leben.

Nein, diese Männer an der Macht hatten mit der Zeit den Realitätssinn völlig verloren. Hegedüs erzählt unter anderem über einen Flug von Budapest nach Moskau aus dem Jahr 1955. Ein Mitglied der ungarischen Delegation, ein Minister bzw. Politbüromitglied, behauptete allen Ernstes, die Verelendung der Arbeiter in West-Deutschland schreite derart rasch vor, daß es in der Bundesrepublik demnächst zu einer „proletarischen Revolution“ kommen werde!

Hegedüs nahm in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident an der Gründungskonferenz des Warschauer Paktes im Mai 1955 in der polnischen Hauptstadt teil. Er räumt ein, daß es dort um den von den Sowjets vorgelegten Vertragstext keine Diskussion gegeben habe. Die Ministerpräsidenten der „Bruderländer“ waren einzig gehalten, das Dokument zu unterzeichnen, was sie alle ohne Zögern taten.

Beschlichen ihn Bedenken wegen des Paragraphen, der es Moskau ermöglichte, für unbegrenzte Zeit Truppen auf dem Gebiet der Ungarischen Volksrepublik zu stationieren? Hegedüs: „Nein. Zu diesem Zeitpunkt entschieden noch nicht die innenpolitischen Gesichtspunkte ... Es war nach dem Schrecken des Berliner Aufstandes 1953. Das System schien — mindestens an der Oberfläche — stabil zu sein. So gerieten militärpolitische Überlegungen in den Vordergrund. Man mußte sich militärisch vor dem — unserer Meinung nach — wiedererwachten deutschen Revanchismus wappnen. Dies war der entscheidende Punkt!“

Auf bezeichnende Äußerungen an dieser für Ungarn und für ganz Europa so wichtigen Warschauer Konferenz angesprochen, erwähnt Hegedüs die von ihm persönlich verfolgte Unterredung zwischen dem sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolaj Bulganin und dem als Beobachter teilnehmenden chinesischen Verteidigungsminister. Der Moskauer Regierungschef soll danach — „halb im Ernst, halb im Spaß“ - gefragt haben, wie viele chinesische Soldaten in Europa auf seiten der Roten Armee eingesetzt werden könnten, sollte es zum Krieg gegen den deutschen Revanchismus kommen. Peng Te-Huj antwortete ohne mit der Wimper zu zuk-ken: „Zehn Millionen ohne weiteres!“ Hegedüs: „Dieser Gedanke war für mich mehr als beängstigend, denn er rief das Bild eines erneuten Tatarensturms über Europa hervor...“

Selbstverständlich beschäftigt sich Hegedüs eingehend mit den politischen Auseinandersetzungen zwischen Imre Nagy und Mä-tyäs Räkosi in der Zeit von 1949 bis 1956. Letzterer hatte seit 1945 ein gestörtes Verhältnis zu Nagy, den er an sich bereits 1940 im Moskauer Exil kennengelernt hatte. Auch „heikle“ Fragen werden im Buch offen diskutiert, so etwa die Judenfrage innerhalb der Parteiführung während der Jahre 1945 und 1956.

Was auffallend zögernd angegangen wird und worauf Hegedüs stets zurückhaltend, ja mit diplomatischen Floskeln antwortet, sind Fragen betreffend die Beziehungen der sowjetischen Parteiführung zu den jeweiligen ungarischen Genossen: „Sie befahlen uns nie, sie gaben uns lediglich Ratschläge“, oder: „Moskau traf nie Entscheide über uns, ohne daß es uns vorher konsultiert hätte.“ So und ähnlich hört es sich bei Hegedüs an, wobei Verständnis dafür aufgebracht werden muß, daß er Rücksicht auf den „Großen Bruder“ und Empfindlichkeiten nehmen muß.

Uber den Volksaufstand 1956 gibt Hegedüs bereitwillig Auskunft. Er kam am 23. Oktober 1956 von Belgrad mit einer hochrangigen Partei- und Regierungsdelegation nach Budapest zurück — und dort wurden sie von den Ereignissen völlig überrumpelt. Eigentlich hatten sie erwartet, daß die Bevölkerung sie wegen der

Aussöhnung Ungarns mit Jugoslawien (Kominform-Affäre) jubelnd empfangen würde.

Aber es kam ganz anders. Das Volk nahm sein Schicksal in seine eigenen Hände...

Wie sieht Hegedüs heute die Zukunft der osteuropäischen sozialistischen Gesellschaften? Seine Theorie basiert auf dem Fortbestehen des Einparteisystems. Daran gibt es nach ihm nichts zu rütteln. Aber: Es muß zu einer ehrlichen Verständigung zwischen Partei und dem Volk kommen. Die Partei muß auf dem Gebiet der Ideologie Zurückhaltung üben. Die Autonomie der Gesellschaft — praktisch vertreten durch verschiedene Bevölkerungsgruppen, Berufsverbände und Interessengemeinschaften — soll im Rahmen der gegebenen sozialistischen Einrichtungen gewährleistet werden.

Die Entwicklung geht nach Hegedüs allein in diese Richtung, soweit überhaupt von einer Demokratisierung der osteuropäischen sozialistischen Gesellschaften die Rede ist. Hegedüs distanziert sich energisch von der totalitären Art des Sozialismus (Stalinismus), verneint jedoch die führende Rolle der an der Macht stehenden Kommunistischen Partei nicht. Wenn er über Reformen spricht, meint er, mehr Kontrolle müßte von der Gesellschaft selber ausgeübt und diese auch „oben“ wahrgenommen werden. Ein gesunder Konsens zwischen der Parteiführung und der Bevölkerung sollte vorherrschen. Dieser würde alle inneren Spannungen in der Gesellschaft entschärfen.

Hegedüs zeigt sich sowohl in seinem Buch als auch als Vortragsredner als eine interessante Persönhchkeit, die_pffene Debjat;, ten liebt. Seine geistige Ünabhängigkeit und Integrität ist hervorzuheben, auch wenn man mit manchen seiner Überlegungen nicht einig gehen und diese im Lichte einer modernen Gesellschaftswissenschaft leicht in Frage stellen kann.

Hegedüs Andräs: Elet egy eszme ärnyekäban. Eletrajzi interju. Keszitette: Zsille Zoltän, Selbstverlag, Wien 1985. Das Buch wird im Herbst deutschsprachig im Ammann-Verlag, Zürich, erscheinen.

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