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Der böse Lauf der Dinge

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Stundenlang, so wird berichtet, stand Karl Kraus vor dem Spiegel, bearbeitete Locke für Locke seiner Haarpracht mit dem Ziel, Martin Luther ähnlich zu sehen. Mit der Waffe der Sprache bekämpfte er die Zionisten und ihre Ideen und entlarvte Auswüchse der „jüdischen Presse“. Karl Kraus verachtete die Österreicher und haßte die Juden. Karl Kraus blieb Literat von hohen Graden, Bruno Kreisky wurde Politiker.

Noch wenige Tage ehe die Sozialistische Partei im März 1970 eine relative Mehrheit von den österreichischen Wählern zugesprochen erhielt, meinte Bruno Kreisky im Gespräch mit Journalisten, ihn trenne von der Funktion des Bundeskanzlers die Tatsache, daß er Jude sei. Er appellierte an Schuldgefühle. Und er gewann. Er installierte eine Bundesregierung, in der vom SS-Mann bis zum NSDAP-Funktionär der ersten Stunde alles vertreten war, was in der Sozialistischen Partei Rang und Namen hatte. Mit der Glaubwürdigkeit des Betroffenen („Allein unter meinen engeren Verwandten sind 14 in Auschwitz umgekommen“) versuchte Kreisky üble Vergangenheiten zu rehabilitieren; hinter der Bärenhaut des stimmenfangenden Politikers war er bemüht, Sensibilität zu verbergen. Er erinnerte an seine Vernehmungen durch Gestapo-

Leute, um lästigen Fragen nach einer klaren Antwort zu entrinnen. Wer ihn bei ähnlichen Gelegenheiten nach seinem Standpunkt als Jude befragte, hatte mit dem Hinauswurf zu rechnen: „Stellen Sie keine frechen und unverschämten Fragen ...“

Karl Lueger wollte bestimmen, wer ein Jude ist; Bruno Kreisky legt fest, wer ein Nazi und wer kein Jude ist. Murmelt einer im Parlament „Auch ein Jude“ vor sich hin, dann ist er ein Antisemit. Klagt aber Karl Lütgendorf über die internationale Kritik an der. Handlungsweise der Regierung, daß „das doch alles Zeitungen sind, die in jüdischen Händen sind“, dann bleibt er in Bruno Kreiskys Augen ein Mann von großer Reputation.

Der arme Bundeskanzler! Da hilft er Menschen vor Terroristen das Leben retten. Da ersetzt er vier Geiseln durch zwei Geiseln, spielt Hasard und gewinnt die Zustimmung der Bevölkerung, weil das Ausland über ein Gentlemen's Agreement des Bundeskanzlers mit Verbrechern empört aufschreit; da läßt er Golda Meir vergeblich anrennen, da fidelt er auf den Saiten des diskreten Antisemitismus der österreichischen Bevölkerung, kurz: da scheint das Rennen in Wien und Oberösterreich für ihn und seine Partei fast schon gelaufen — da werfen die jüngsten Ereignisse

im Nahen Osten alle Investitionen (fast wieder) über Bord.

Man darf annehmen, daß Bruno Kreisky die allerneuesten Ovationen der arabischen Presse keine große Freude bereitet haben. Man darf aber auch wieder nicht vergessen, daß er es für zweckmäßig hielt, in einer Wahlbroschüre aus dem Jahr 1970 mit ägyptischen Spitzenpolitikern abgebildet zu sein. Zweckmäßig für wen? — Für einen, der trotz eines feelings für historische Zusammenhänge seine eigene Geschichte vergessen machen will?

„Wer mir das Recht abspricht, mich nicht als Juden zu betrachten, ist intolerant“, meinte er jüngst in einem Gespräch mit der israelischen Zeitung „Jediothat Aharonoth“. Der Talmud freilich meint es anders: Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde. Ein Jude kann konvertieren, er kann sich überall assimilieren, er kann selbst Antisemit werden, seiner Art und seiner Herkunft aber kann er nicht entfliehen.

Als sie ihn noch weit vor seiner Partei mit der relativen und später mit der absoluten Mehrheit bedachten, dürfte sich unter den Österreichern das Gefühl, die Vergangenheit tatsächlich bewältigt zu haben, breitgemacht haben. Als Bruno Kreisky vielleicht unbewußt — aber sicherlich unterschwellig —

eine neue Welle des Antisemitismus in Österreich gewähren ließ, konnte leicht einer, der gelegentlich „Saujuden“ zu sehen glaubt, denken, daß das von höchster und auch kompetenter Stelle jetzt sanktioniert werde. Ein böser Lauf der Dinge, an dem wir alle mitschuldig sind!

Weil der Österreicher gern die unangenehmen Dinge in „die Türkei“ oder anderswohin verschiebt, durfte Kreisky bei alledem mit Beifall rechnen. Weil das Ausland aber nicht verstehen will, warum sich ausgerechnet das neutrale Österreich seiner geopolitischen Situation und seiner humanitären Verpflichtungen

entledigen will, hat “es nicht mit Kritik gespart. Vielleicht wird, angesichts der kriegerischen Ereignisse im Nahen Osten und der neuerlichen Bedrohung Israels, der leichte kritische Wind einem Orkan der Beschuldigungen weichen?

Die nächsten Tage werden es zeigen. Dann wäre zum Höchstpreis bewiesen, daß es nicht lohnt, mit den Wölfen zu heulen. Diese bittere Erfahrung zu machen, hätten wir uns alle ersparen können: der Regierungschef, seine Regierung, seine Partei und ein Gutteil der Österreicher.

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