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„Der böse Trieb ist sehr gut..."

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Die religiöse Ethik von Judentum und Christentum wurzelt in der von Christen Altes Testament genannten Bibel.

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Die religiöse Ethik von Judentum und Christentum wurzelt in der von Christen Altes Testament genannten Bibel.

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Sexualität ist im Judentum ein selbstverständlich positiv bewerteter Bestandteil menschlichen Lebensvollzugs. Sie wird in engstem, aber nicht ausschließlichem Zusammenhang mit dem Gebot zur Fortpflanzung gesehen. Pointiert charakterisiert R. (Rabbi) Asai im Talmud das Verhalten von jemandem, der die Fortpflanzung nicht übt, „als würde er Blut vergießen und das Bild Gottes auf Erden verringern". (bYev 63b)* Allgemein gilt, daß Geschlechtsverkehr nur in der Ehe erlaubt ist (vergleiche Maimonides, Is-hut 1,4: „Jeder, der einer Frau der Unzucht wegen beiwohnt, ohne Heirat, wird von der Torah bestraft.").

Im rabbinischen Judentum gibt es viele Bestimmungen, die die einschlägigen biblischen Grundlagen weiter ausbauen. Dabei wird nicht die Sexualität als solche thematisiert, sondern es werden Lebensbereiche angesprochen, die wesentlich mit dem Vollzug der Sexualität zusammenhängen. Nicht zuletzt soll durch zahlreiche Verhaltensregeln, die von den Propheten kritisierte Unzucht der Heiden vermieden werden.

Wo sich jüdische Traditionsliterä-tur mit Sexualität beschäftigt, sieht sie meist auch das Problem des Fehlverhaltens, das schon bei den Gedanken beginnt (schon im Dekalog (Dtn 5,21) heißt es ja: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau"). So warnt auch die hebräische Erbau-ungs(=Musar)-Literatur vor unzüchtigen Gedanken, zählt doch die Unzucht zu jenen Vergehen, die die Schechina (die göttliche Gegenwart) vertreiben.

In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß die biblische Praxis der Polygamie spätestens ab dem Mittelalter aufgegeben wurde und nur selten (im islamischen Umfeld wie etwa im Jemen) erhalten blieb. Die Ehe hat einen sehr hohen Stellenwert. Einerseits gilt sie pragmatisch als Möglichkeit zur Bewälti-

ng der Sexualität (vergleiche erR 9,7, wo es heißt: „Der böse Trieb ist sehr gut. ... Denn wäre es nicht des bösen Triebes wegen, kein Mensch würde ein Haus bauen, heiraten und zeugen ..."). Positiv wird sie als Voraussetzung für eine reife Menschlichkeit angesehen. So formuliert der Talmud in radikaler Interpretation von Gen 2,27 überspitzt: „Ein Mann, der keine Frau hat, ist kein Mensch." (bYev 63a).

Konsequenterweise hat Ehelosigkeit keine religiöse Vorbildfunktion. Religiös motivierte Ehelosigkeit, wie sie aus dem Neuen Testament bekannt ist (Mt 19,12), war, wie die Berichte von Josephus Flavius und Plinius über die Essener und auch die Qumrantexte selbst belegen, bei apokalyptisch jüdischen Gruppen dieser Zeit bekannt. Die Ehelosigkeit gehörte nach der auch in Qum-ran gefundenen Damaskusschrift (7,5-7) zu den Bestandteilen heiliger Vollkommenheit. Diese religiös motivierte Lebensform wurde im rabbinischen Judentum aber nicht rezipiert. Es gibt daher auch keine jüdi-

schen Mönche und Nonnen.

Vom biblischen Gebot (Gen 1,28) „Seid fruchtbar und mehret euch!" ausgehend, ist der rabbinischen Gesetzgebung zufolge die Anwendung empfängnisverhütender Mittel nur in ganz bestimmten Fällen in der Ehe erlaubt, nach manchen sogar geboten. Der Talmud (Yev 12b) sieht eine solche Situation als gegeben, wenn Gefahr für das Leben der Mutter besteht oder eine Mißgeburt zu befürchten ist, und lehrt: „Drei Frauen gebrauchen empfängnisverhütende Mittel: die Minderjährige, die Schwangere und die Stillende." Im Reformjudentum wird die Entscheidung darüber den Eheleuten überlassen. So zeigen denn auch moderne Studien rabbinischer Gelehrter das Bemühen, die traditionellen Quellen auf ihre Relevanz für die geänderte Situation in der Gegenwart zu hinterfragen.

Zu diesem Problemkreis gehört auch die Abtreibungsfrage. Bis um etwa 200 nach Christus findet sich kein Beleg daß der Embryo als ein von der Mutter verschiedenes Lebe-

wesen gilt. Davon ausgehend entscheidet die Mischna (200): „Wenn eine Frau schwer gebiert, zerschneidet man das Kind im Mutterleib und holt es stückweise heraus, weil das Leben der Mutter dem des Kindes vorgeht. Ist aber der größte Teil schon herausgekommen, darf man es nicht mehr verletzen; denn man darf nicht ein Leben für ein anderes hinopfern." (mOharVIII, 6)

Dieser Satz aus der Mischna blieb geltendes Religionsgesetz, womit die Tötung des Fötus auf den beschriebenen Notfall eingeschränkt wird.

Bei aller positiven Bewertung der Sexualität ist den Rabbinern die Spannung zwischen ethischer Aufgabe und dem drängenden Anspruch derselben stets bewußt. Sie bringen das auf die einprägsame Formel: „Wer ist mächtig? Derjenige, der seinen Trieb unterwirft!" (mAv 4,1).

Ferdinand Dexinger ist Professor für jüdische Religionsgeschichte am Institut für Judaistik der Universität Wien * Die Abkürzungen beziehen sich auf rabbinische Literatur und die Bibel

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