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Der Bogen von Dreyfus zu Solschenizyn

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„In einer langen Reihe von Jahrhunderten schuf der Konservative, die Voraussetzkngen, die seine eigene Logik rechtfertigen — das Naturrechi, die wesentlichen und permanenten Ideen und selbst die Menschenrechte, die, genau betrachtet, nur für einen genügend erlesenen Menschen gelten.“ Antonio Alvarez Solis in der Zeitschrift Destino, Barcelona

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„In einer langen Reihe von Jahrhunderten schuf der Konservative, die Voraussetzkngen, die seine eigene Logik rechtfertigen — das Naturrechi, die wesentlichen und permanenten Ideen und selbst die Menschenrechte, die, genau betrachtet, nur für einen genügend erlesenen Menschen gelten.“ Antonio Alvarez Solis in der Zeitschrift Destino, Barcelona

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Am 12. Juli 1906 (ich zählte damals 20 Jahre) war ioh Zeuge der Rehabilitation von Dreyfus durch das Kassationsgericht in Paris, die im Rahmen einer Plenarversammlung aller Kammern stattfand. Der Saal, in dem wohl an die 100 Richter in karmesinroten Talaren saßen, bot einen imposanten Anblick. Der feierliche Akt bedeutete das Ende jener niederträchtigen Verfolgung, die ein französischer Artilleriehauptmann erlitten hatte, dessen Verbrechen darin bestand, Jude zu sein. Der Umstand, Jude zu sein, hatte im chauvinistischen und militärischen Frankreich der Jahrhundertwende nichts mit Erlesenheit zu tun. Man könnte eher behaupten, daß es ein Auserwähltsein im gegenteiligen Sinne darstellte.

Überdies ist das Heer eines jeden Landes ein Instrument der Auswahl. Die Verfolger von Dreyfus waren erlesener als seine Verteidiger. Der Kriegsminister, General Mereier, versah das Kriegsgericht hinter dem Rücken des Angeklagten mit Dokumenten, die als Beweisstücke wertlos waren, doch in jenem vergifteten Milieu zur Verurteilung von Dreyfus führten. Tatsache ist, daß Mereier als General erlesener war als Dreyfus, der nur Hauptmannsrang einnahm, und wesentlich erlesener als Oberst Picquart, der als erster den dokumentarischen Beweis nicht nur für die Unschuld Dreyfus' erbrachte, sondern auch Esterhäzy als den Schuldigen entlarvte. All dies geschah in den Jahren 1894 und 1895.

Manche Leute jedoch, insbesondere Literaten wie Zola und Politiker der Linken wie Clemenceau, gaben ihrer Empörung Ausdruck. Es war ein hartes Unterfangen, denn es hieß Kampf gegen eine starrköpfige militaristische Meinung zu führen. Wofür kämpften sie eigentlich? Was ging es sie im Grunde genommen an? Nun, sie kämpften, um das Naturrecht und die Menschenrechte zu verteidigen. „Warum all dies Aufhebens, Dreyfus ist ja nur ein elender Jude“, keiften die anderen (die Konservative waren). Doch die Kämpfer beharrten darauf, daß es vor dem Recht weder Christen noch Juden gebe; mögen auch die einen mehr und die anderen weniger erlesen sein — Menschen sind sie alle. Und damit basta.

Dreyfus war keine gewinnende Persönlichkeit; er war nicht nur Jude, er war auch häßlich; und er war reich; mit einem Wort, er besaß alle Untugenden, die man einem Menschen vorwerfen kann. Aber er war ein Mensch und die gesamte Linke erhob sich wie ein Mann und war auf seiner Seite; und die erlesensten unter ihnen, wie Picquart und auch Zola, setzten ihre Karriere aufs Spiel und wanderten ins Gefängnis. Denn es ging um einen Menschen und um seine Rechte. Zu jener Zeit wurden diese Dinge noch ernstgenommen.

Im Jahre 1909 wurde Francisco Ferrer der Mitschuld an den Ereignissen der Tragisohen Woche von Barcelona bezichtigt und infolge des Druckes, den ein ebenso gebieterischer wie mächtiger Sektor der spanischen Meinung (der übrigens eine Minderheit war) ausübte, zum Tode verurteilt. Ferrer war unschuldig. Er hatte weder an dem Aufruhr während der Tragischen Woche Anteil genommen, noch an einem Attentat auf den König, in das man ihn verwickeln wollte. Er war kein Erlesener. Die öffentliche Meinung aber war empört und stellte fest, daß hier ein Fall von Vergewaltigung der Menschenrechte vorlag. Ferrer war ein Mensch ohne Bedeutung. Aber er war ein Mensch, der auf alle seine Rechte Anspruch hatte; und die Männer, denen an der Wahrung dieser Rechte gelegen war, erhoben sich zu seiner Verteidigung. Obzwar ich noch sehr jung war, nahm ich an jenem Feldzug aktiv Anteil.

Im J[ahre 1920 wurden in Boston zwei italienische Anarchisten verhaftet, des Mordes an einem Zahlmeister beschuldigt, und nach einem langwierigen Prozeß zum Tode verurteilt. 1925 gestand ein gewisser Celestino Madeiros, an diesem Mord

.beteiligt gewesenSzü,sein: und zwar unter Umständen, die mit der

•Schuld Saccos trnd Vanzettis unvereinbar gewesen wären. Dessen ungeachtet wurden beide im Jahre 1927 hingerichtet. Die ganze Welt protestierte. Da aber weder Sacco noch Vanzetti zu den Erlesenen gehörten, lehnte es der Staatsanwalt von Massachusetts bei jeder Gelegenheit

— und auch noch 1959 — ab, die Unschuld der beiden anzuerkennen. Dies geschah nicht nur deshalb, weil Sacco ein Schuster war und Vanzetti mit Fischen hausierte, sondern weil sie beide Anarchisten und — was noch schwerer in die Waagschale fiel

— Italiener waren. Der Weltprotest galt der Vergewaltigung der Menschenrechte; unter denen, die protestierten, gab es Erlesene sowie auch Nichterlesene. Es gab Erlesene wie Elihu Root, der Staatssekretär und Präsidentschaftskandidat gewesen war. Professor Frankfurter, der an der Universität Harvard Rechtswissenschaft lehrte, veröffentlichte das ganze Prozeßprotokoll mit einem von ihm verfaßten Vorwort, in dem er den Fall als ein Beispiel ungeheuerlicher Ungerechtigkeit brandmarkte. In späteren Jahren wurde Frankfurter Richter am Obersten Bundesgerichtshof in Washington. Doch als er die offizielle Justiz angriff, ohne sich dabei ein Blatt vor den Mund zu nehmen, setzte er seine Karriere aufs Spiel. Ich kannte Frankfurter während aller Abschnitte seiner akademischen und juristischen Laufbahn und ich habe nie an seiner strengen Unparteilichkeit gezweifelt. Für ihn war das Wesentliche die Vergewaltigung der Rechte zweier Menschen gewesen. Daß die Opfer ein Hausierer und ein Schuster waren, hatte nichts mit dem Protest zu tun. Sie waren Menschen — und darauf kam es an. *

Um diese Zeit mag es gewesen sein, daß ein indischer Rechtsanwalt, Mahatma Gandhi, in einer Stadt Südafrikas (das damals zum britischen Weltreich gehörte) gelassen seines Wegs auf dem Bürgersteig ging, als ihn ein — selbstverständlich weißer — Schutzmann, um ihn daran zu erinnern, daß es den Farbigen untersagt war, den Bürgersteig zu benützen, mit einem Faustschlag ins Gesicht in den Rinnstein warf. Damals schwor dieser Rechtsanwalt, der seine Studien in London absolviert hatte und dem britischen Weltreich eher freundlich gesinnt war, sein Leben der Unabhängigkeit seines Volkes zu widmen.

Die wirksamste Hilfe hiebei leisteten ihm seine Feinde. Als der erste europäische Krieg zu Ende ging, ertfwhr die UnSbhängtgkeits-bewegung Indiens einen neuen Aufschwung trotz des starken Widerstandes aus London. Gandhi seinerseits verkündete den „Satyagraha“ oder Bürgerungehorsam. Als man seinem Hirten und Führer die Einreise in den Punjab verbot, äußerte das Volk in verschiedenen Ortschaften seinen Unmut und es gab kleiner Aufstände. In Amritsar war alles ruhig geblieben; als jedoch die englische Regierung zwei mit der Freiheitsbewegung sympathisierende Ärzte verhaftete, kam es zu Zusammenstößen mit dem Volk, in deren Verlauf fünf Europäer starben. Nun übernahm das Militär die Macht. Nach zwei Tagen ohne Zwischenfälle versammelte sich eine große Menschenmenge auf einer Esplanade der Stadt. General Dyer rückte gegen sie vor und befahl — ohne vorherige Warung oder Aufforderung sich zu zerstreuen —, Feuer gegen sie zu eröffnen. Das Morden währte zehn Minuten und kostete 379 Inder, Inderinnen und ihre Kinder das Leben. Sie waren alle unbewaffnet.

Die Intellektuellen Englands hüllten sich in Stillschweigen. Der Untersuchungsausschuß, der sechs Monate nach diesem Vorfall eingesetzt wurde, beendete seine Tätigkeit mit einem Tadel für Dyer; doch gab es im Unterhaus viele, die den ungestümen General verteidigten, während das Oberhaus den vom Untersuchungsausschuß ausgesprochenen Tadel rügte. General Dyer wurde von der Londoner City mit einem „Ehrensäbel“ und mit einem Scheck auf 28.000 Pfund belohnt.

Das waren die Konservativen. Die Liberalen und die Labourpartei waren gegen Dyer; nichts desto weniger erhoben nicht wenige unter ihnen ihre Stimmen zu seiner Verteidigung. Das Naturgesetz und das der Menschenrechte waren auf Seite der Inder. Ich vermeide es absichtlich, das Ärgste, das Dyer damals gegen die Erlesenen und Nichterlesenen Indiens verbrochen hatte, zu erwähnen. Die Erlesenen und Nichterlesenen Englands waren an jenem Tage nicht für, sondern gegen das Naturgesetz.

Diese Kette von Berichten könnte sehr lange sein. Ein jedes ihrer Glieder stellt eine Schreckenstat dar: Die Lösung, die der Begründer der Rockefeller-Dynastie fand, um für immer mit Streiks Schluß zu machen (indem er die Streikenden mit Maschtnenge. /ehren niedermähen ließ); die hundertprozentige Sterblichkeit unter den Arbeitern der Kongoeisenbahnlinie, für welche Andre Gide öffentlich den Beweis erbrachte; der Mord an Millionen Juden durch Hitler; die Ermordung von 10.000 polnischen Offizieren durch Stalin; die Hekatomben von Gegnern, die Stalin als Treppe dienten, um als Zar aller Russen auf den Thron zu steigen; und noch so viele andere Massaker, deren Opfer eine traurige Menschheit von Erlesenen und Nichterlesenen durch Niohterlesene und Erlesene wurde.

Denn das Problem wurzelt weder in der Auswahl, noch in der konservativen Einstellung; auch nicht in Revolution oder Reaktion. Es wird vielmehr durch menschliche Leidenschaften bedingt: Heißhunger nach Macht und rassische oder berufliche Überheblichkeit; ideologische Begrenztheit; persönliche oder nationale Habsucht — ein jeder wird einen oder den anderen dieser menschlichen Mängel in diesen oder jenen Wahnsinnstaten, die ich eben aufgezählt habe, wiederfinden. Was er hingegen nicht sehen wird, ist der Umstand, daß sich im Verlaufe der Geschichte eine Tendenz zeigt, sei sie nun konservativ oder nicht, permanente Ideen festzuhalten und dem Naturgesetz wie auch den Menschenrechten Geltung zu verschaffen, damit sie wie ein schützendes Panzerhemd die eigenen, armseligen Interessen verteidigen mögen. Diejenigen, die im Laufe der Jahrhunderte, von den Kirchenvätern bis zu Erasmus und Voltaire, ihren Einfluß geltend machten, damit es immer weniger Barbarei und mehr Zivilisation geben möge, hatten nichts mit den abstrakten Ideen zu schaffen, die Karl Marx zu einem viel späteren Zeitpunkt verbreitete, indem er all das, was in Wirklichkeit auf Sokrates und den Evangelien beruhte, auf eine Art „Soll-und-Haben“-Buchhaltung herabminderte. Wenn Voltaire seine Laufbahn und auch sein Leben aufs Spiel setzt, um Calas oder den Chevalier de la Barre zu verteidigen, handelt er weder als Bürger noch als Kapitalist noch auch als Konservativer, sondern als der Mensch, der an Ohristus-Sokrates glaubt. Und dies war auch die Norm für diejenigen, welche sich zur Linken zählten — bis zu der Zeit, wo die Linke durch die Rückkehr der Sowjets zum Zarismus entehrt wurde. All denen, die diesem Banner gefolgt waren, ohne sich eine ideologische Nachhut zu sichern, blieb nichts anderes übrig, als die Schändlichkeit der Stalin-Chruschtschow-Bresch-njew mit der unbefleckten Empfängnis der Linken in Einklang zu bringen. Da der Kreis sich aber weigert, viereckig zu sein, selbst wenn es der Parteisekretär gebietet, mußte man, um den Kommunismus zu retten, das Naturgesetz, die besonderen und permanenten Ideen und sogar die Menschenrechte als schmachvoll verurteilen; wie auch die Logik, die heutzutage die politische Färbung ihres jeweiligen Beobachters annimmt.

Mittlerweile verfaulen die Erlesenen der Sowjetunion, wie Amalrik in Sibirien; sie werden ihrer Nationalität beraubt und ins Exil geschickt, wie Solschenizyn und Med-vedew; oder in eine Irrenanstalt gesperrt, wie Gregorienko, wo ein unwürdiger Arzt dafür sorgen wird, ihren Geist mittels Drogen zu trüben, falls sie in ihrer Isolierung nicht schon früher in der Tat dem Wahnsinn verfallen. Und so sind diese heldenhaften Menschen, die es wagen, die Tyrannei der Sowjetunion herauszufordern, der einzige Schlagbaum, der uns noch vom eigenen Sklaventum trennt.

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