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Der Buchstabe tötet

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Das Thema Gesetz und Gerechtigkeit wird im Evangelium sehr breit abgehandelt. Die Verwendung der Begriffe ist eindeutig: Gesetz ist das mosaische Gesetz und die Gerechtigkeit ist eine göttliche Eigenschaft. Der Gerechte steht im Gegensatz zum Gottlosen. Die Aussage des Evangeliums erscheint eindeutig, wenn auch die Akzentuierung dieses Themas etwa bei Paulus und Matthäus unterschiedlich ist.

Paulus hält Lästerreden gegen das Gesetz.,.Der Buchstabe tötet" sagt er im 2. Kor 3,6 sogar im Hinblick auf die zehn Gebote. Ja, „das Gesetz reizt zur Sünde an". „Die Kraft der Sünde ist das Gesetz" (Kor 15,6). In der Bergpredigt hingegen heißt es nach Matthäus - und er wird darin von Lukas bekräftigt -, „wer das geringste meiner Gebote auflöst, wird als der Geringste gelten im Himmelreich".

Ein Mensch wird durch des Gesetzes Werke vor Gott nicht gerecht (Rom 3,20 ff). „Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen" (Mt 5, 50). Vielmehr vermag gerade das bloße Festhalten am Gesetz zur Verdammnis zu führen...

Die Überwindung des Gegensatzes Gesetz und Gerechtigkeit findet sich am deutlichsten in der Bergpredigt: Ich bin nicht gekommen, die Gesetze aufzulösen, sondern sie zu erfüllen (Mt 5,17). Das Gesetz wird nicht aufgehoben, sondern aufgerichtet (Römer 3,31). Und was dieses Erfüllen bedeutet, stellt Christus sogleich klar, indem er die steinernen Gesetze vom Berg Sinai (wie sie Paulus in 2Kor 3, 6 ff bezeichnet) erläutert. Nicht nur, wer den anderen tötet, sondern auch wer seinem Bruder im Herzen zürnt, versündigt sich.

Also nicht die wörtliche, sondern die teleologische Auslegung des Gesetzes rechtfertigt das Handeln. Jedes Gesetz ist unter dem Blickwinkel der Gottes- und der Nächstenliebe zu interpretieren (siehe so Rom 13, 8 ff). Angeprangert wird die Herzenshärte im Zusammenhang mit der Gesetzesauslegung.

Christus lehnt also das Gesetz nicht schlechthin ab, er unterwirft sich der Beschneidung und der Taufe, aber er handelt entsprechend einer teleologischen Auslegung, er nimmt Güterabwägungen vor. Er heilt etwa am Sabbat. Christus hat keine Systematik hinterlassen, sondern Gleichnisse gepredigt, die die Richtung und das Ziel anzeigen. Und somit reduzieren sich alle Gebote letztlich auf zwei: die Gottes-und die Menschenliebe. „An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten."

Diese eindeutige Aussage bezieht sich aber, und das erscheint mir sehr entscheidend zu sein, nicht nur auf die historische Situation der Ablösung des Alten durch das Neue Testament, sie bezieht sich also nicht nur auf das mosaische Gesetz, sondern auf das Gesetz schlechthin. Es ist auch auffällig, daß Christus keine neuen Gesetze hinterlassen hat, sondern Gleichnisse, welche die Richtung anzeigen.

Das Liebesgebot hat er in den Mittelpunkt gestellt. Damit ist das Ziel bezeichnet, unter dem die Situationen des Lebens jeweils zu beurteilen sind. Pharisäische Gesetzesauslegung jedoch, eine Auslegung fern vom Liebesgebot, eine Gleichsetzung von Gesetz und Gerechtigkeit, läßt sich auch in der katholischen Kirche nachweisen. Denn es ist eine menschliche Sehnsucht, Erkenntnis als einen Besitz juristisch abzusichern. Die Kirche ist vor menschlichen Schwächen nicht gefeit, da wir doch alle zusammen Kirche sind.

Der Sünderin sagt Christus „geh hin und sündige nicht mehr". Vorder Steinigung der Ehebrecherin nimmt er den Richtern sozusagen die Steine aus der Hand, indem er sagt: werohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Daher sagt Paulus, der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig. Als Jurist möchte ich sagen, die teleologische Auslegung und nicht die Abschaffung der Gesetze ist die Botschaft des Evangeliums.

Die Botschaft ist: es bedarf der Gesetze, aber ihre Erfüllung bedarf immer einer Überprüfung ihres Sinnes im Hinblick auf die Gerechtigkeit, die durch den Buchstaben nicht erfaßbar ist.

Der Autor ist Generalanwalt und Sektionsleiter im Justizministerium, sein Beitrag ein Auszug aus einem Vortrag am 16.2.92 in Wien.

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