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Der Bürger als Souverän

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Die neue Landesverfassung, die nach langwierigen Verhandlungen zwischen den Regierungsparteien ÖVP und FPÖ und der SPÖ-Opposition in Vorarlberg im Frühjahr 1984 einstimmig beschlossen wurde, sowie das 1985 beschlossene Gemeindegesetz haben die Elemente der direkten Demokratie im „Ländle“ wesentlich gestärkt.

Ausgebaut wurden in Landesverfassung und Gemeindegesetz in Vorarlberg die Institutionen des Volksbegehrens, der Volksabstimmung und der Volksbefragung. Seit Oktober 1985 kommt die Einrichtung der ersten Landesvolksanwaltschaft in Österreich hinzu.

Schließlich steht eine verstärkte Personalisierung des Wahlrechts in Richtung eines Vorzugsstimmen-Systems zwischen den Parteien in Verhandlung und soll noch vor den nächsten Landtagswahlen 1989 in Kraft treten.

Volksbegehren können sowohl in Angelegenheiten der Landes-Gesetzgebung als auch der Verwaltung eingeleitet werden. Dazu sind 5.000 Unterschriften von Stimmbürgern oder der Beschluß von zehn Gemeinden (Gemeindevertretungen) — bei insgesamt 96 Vorarlberger Gemeinden — erforderlich.

Bei Gesetzesinitiativen, die durch Volksbegehren lanciert werden, ist — im Unterschied zur Bundesregelung — kein ausgearbeiteter Gesetzesentwurf erforderlich.

Wichtig ist — und ein wesentlicher Fortschritt -, daß Volksbegehren zwingend einer bindenden

Volksabstimmung zugeführt werden müssen, wenn das Volksbegehren von 20 Prozent der stimmberechtigten Bürger unterzeichnet wurde.

Wird ein Volksbegehren in Angelegenheiten der Verwaltung von 5.000 Bürgern unterzeichnet oder von zehn Gemeinden verlangt, so muß es von der Landesregierung behandelt werden.

Volksabstimmungen über Gesetzesbeschlüsse müssen durchgeführt werden, wenn 10.000 Stimmbürger das mittels ihrer Unterschrift fordern. Auch können zehn Gemeinden durch Gemeindevertretungsbeschluß eine Volksabstimmung verlangen. Voraussetzung ist dabei, daß die Volksabstimmung spätestens acht Wochen nach Beschlußfassung des Gesetzes eingeleitet wird. Selbstverständlich kann eine Volksabstimmung auch von der Mehrheit der Landtagsmitglieder beschlossen werden.

Von zwar grundsätzlicher, wohl aber kaum praktischer Bedeutung ist die Bestimmung, daß eine Volksabstimmung zwingend durchzuführen ist, wenn verfassungsändernde Gesetze beschlossen werden, durch die das Land Vorarlberg als selbständiges “Land aufgegeben wird, das Landesgebiet geschmälert, das Wahlrecht beschnitten oder aber Rechte von Bürgern und Gemeinden, Volksbegehren sowie Volksabstimmungen und Volksbefragungen zu verlangen, beseitigt werden. In einer Notstandssituation freilich kann diese Verfassungsbestimmung von weitreichender Bedeutung werden.

Neu in der Verfassung des Landes Vorarlberg ist das Instrument der Volksbefragung, durch die die Meinung der Landesbürger über Angelegenheiten der Landesverwaltung erfragt werden kann. Wie beim Volksbegehren ist dazu die Unterschrift von 5.000 Bürgern erforderlich oder der Beschluß von zehn Gemeinden. Natürlich können auch der Landtag oder die Landesregierung eine Volksbefragung beschließen.

In der Zeit der starken Bedeutung von Bürgerinitiativen scheint eine Bestimmung besonders wichtig, daß nämlich Volksbefragungen auch auf Teile des Landes und bestimmte Regionen beschränkt werden können, wenn eine Problematik vor allem die Bevölkerung einer Region betrifft.

In den Bereich verstärkter Bürger-Mitbestimmung und direkter Demokratie gehört auch, daß Gesetzesentwürfe zur allgemeinen Ansicht aufgelegt werden müssen.

Wenngleich die Einrichtung einer Landesvolksanwaltschaft vor allem der Kontrolle insbesondere der Verwaltung des Landes und der Gemeinden dient, so stärkt diese doch auch die Rechte der Landes- und Gemeindebürger. Ende Oktober 1985 hat Vorarlberg durch Landtagsbeschluß den ersten Landesvolksanwalt in Österreich gewählt, der mit Jahresbeginn 1986 seine Arbeit aufnahm und bereits häufig in Anspruch genommen wurde.

Der Landesvolksanwalt ist unabhängig, kann auch amtswegig vermutete Mißstände überprüfen und gibt dem Landtag jährlich einmal einen Bericht.

Im Verlauf des langen Streits um die Bestellung des Volksanwaltes haben sich die ÖVP-Mehr-heit und die Grün-Alternativen darauf verständigt, daß durch eine Verfassungsänderung bei der Wiederbestellung des Landesvolksanwaltes nach einer sechsjährigen Amtsperiode diese durch Volksabstimmung erfolgen soll.

Bemerkenswert dabei ist, daß nicht nur die SPÖ-Opposition gegen diese zwischen ÖVP und Grün-Alternativen paktierte Verfassungsänderung Sturm lief, sondern auch die mitregierenden Freiheitlichen. Beide Parteien halten es für untragbar, daß eine Verfassungsänderung mit qualifizierter Mehrheit, nicht aber einstimmig beschlossen werden soll.

Eine Verstärkung der direkten Bürger-Mitbestimmung soll auch die geplante Änderung des Wahlrechts zu den Landtagswahlen bringen. Alle vier Landtagsparteien haben sich grundsätzlich darauf verständigt, daß ein Vorzugsstimmen-System eingeführt werden soll, durch das der Einfluß des Wählers auf die Listenplätze einzelner Kandidaten wirksam werden soll. Allerdings suchen die Parteien noch nach passenden Modellen.

Einen Schlag gegen die direkte Demokratie stellte die Aufhebung des in Vorarlberg vor allem in Kleingemeinden verbreiteten „Mehrheitswahlrechts“ durch den Verfassungsgerichtshof im Jahre 1984 dar. Dieses Wahlrecht sah vor, daß in einzelnen Gemeinden keine Wahllisten aufgestellt, sondern Kandidaten direkt von den Wählern genannt werden.

Bei den Gemeindewahlen 1985 verfiel man nun auf den Ausweg, durch eine Art Vorwahlen formal zwar dem Spruch des Verfassungsgerichtshofes nach Wahllisten genüge zu tun, zugleich aber das alte System dadurch beizubehalten, daß das Ergebnis der Vorwahlen als Liste eingereicht wurde.

Durch das Gemeindegesetz 1985 wurden die Instrumente des Volksbegehrens, der Volksabstimmung und der Volksbefragung auch auf Gemeindeebene analog zur Landesregelung in der Verfassung neu geordnet. Sowohl ein Volksbegehren als auch eine Volksabstimmung und eine Volksbefragung müssen durchgeführt werden, wenn ein Fünftel der Gemeindebürger dies verlangt.

Selbstverständlich kann auch die Gemeindevertretung die Realisierung dieser Bürger-Mitbestimmung beschließen. Von konkreter Bedeutung wurde dies Anfang März 1986, als die Marktgemeinde Lustenau über die Fortführung oder Schließung des Entbindungsheimes die Bürger zu den Urnen rief und diese sich mehrheitlich für den Fortbestand des wirtschaftlich unrentablen Entbindungsheimes aussprachen.

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