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Der Chef

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Er lag da, als hätte ihn jemand hinterrücks mit Wucht aufs Straßenpflaster geschmettert. Ein ungewöhnlich hagerer, offenbar noch jüngerer Mann. Doch als man ihn umdrehte, stellte man überrascht fest, daß er von hohem Alter war. Sein Schädel kurzgeschoren. Die Gesichtszüge von abweisend trockener Strenge. Und seine halbgeöffneten, erstarrten Augen von jenem Seeblau, wie man es gelegentlich bei den Angehörigen alter hanseatischer Kaufmannsfamilien antrifft.

Er war in bestes englisches Tuch gekleidet, seine Krawatte von schwerer Seide und deren unauffällige Nadel ohne Zweifel ein Vermögen wert. Der schwache Duft eines teuren Parfüms stieg von ihm auf, als der herbeigerufene Amtsarzt ihm die Kleider öffnete. Er müsse eines jähen Todes gestorben sein, meinte der Arzt, als er sich endlich aufrichtete; doch ließe sich keinerlei Verletzung nachweisen, ganz zu schweigen von irgendwelchen Anzeichen äußerer Gewaltanwendung.

Auch die Bestandsaufnahme des Inhalts seiner zahlreichen Taschen brachte vorerst noch keinen Schritt voran. Denn er trug keinen Ausweis bei sich; lediglich ein leeres Notizbüchlein mit einem dünnen, goldenen Drehbleistift, ein Spitzentaschentuch, ein Etui mit etlichen kubanischen Zigarren und eine sehr flache Uhr aus Platin, die offensichtlich infolge des Sturzes zum Stehen gekommen war und deren drei Zeiger senkrecht nach oben wiesen: auf null, auf zwölf, auf vierundzwanzig Uhr. Auf Mittag also. Oder auf die Mitternacht?

Nachdem die Durchsuchung bereits abgeschlossen war, entdeckte einer der Beamten in der Innentasche der Weste dieses fremden Toten noch ein Futteral aus feinstem Leder. Es war kaum größer als vier Zentimeter im Quadrat und enthielt auf einer flachen Spule aus Plexiglas ein Tonband.

Man legte es auf. Es gab keinen Laut von sich, und zwar so lange, daß die Herren von der Kommission bereits glaubten, es wäre nicht bespielt. Doch gerade in dem Augenblick, als einer von ihnen im Begriff war, das Gerät abzuschalten, setzte eine Stimme ein: eine klare, zunächst noch monotone Männerstimme, die sich nach und nach zu einer Art von ekstatischem Pathos steigerte:

Endlich ist es soweit!

Gestern, tief in der Nacht, habe ich, nach langwierigen, äußerst zähen Verhandlungen, endlich meinem Prokuristen gekündigt.

Meinem letzten Angestellten! Schon seit Monaten bin ich es überdrüssig, zu beobachten, wie er mich beobachtet, wie er herumsteht und mir überallhin folgt, in lauernder Unterwürfigkeit alle Zeit bereit, mir an die , Hand zu gehen. Nur seiner treuen Dienste wegen und nicht zuletzt aus Rücksicht auf seine zwiespältige, über die ganze Erde verstreute Verwandtschaft habe ich den entscheidenden Schritt immer wieder verschoben. Nun, da ich ihn getan, will ich ihn nicht bereuen. Sein Preis war ungeheuer. Die Abfertigung überstieg alle landläufigen Grenzen.

Wenn ich nun — fuhr die Stimme nach einer Pause fort — auf der Draisine mein Reich durchmesse, erfaßt mich, angesichts seiner Weitläufigkeit, ein Gefühl, das ich kaum zu beschreiben vermag.

Halle reiht sich an Halle.

Dazwischen öffnen sich in regelmäßigen Abständen Durchblicke von zweierlei Art: einmal horizontale in Schluchten aus Beton und Glas, auf deren Grund jeweils vier Gleisspuren einem Horizont entgegenführen, der sie zu einer Spitze vereint; zum anderen die vertikalen Durchblicke hinab in zahlreiche Schächte, in denen die Lastenaufzüge mit hohen Geschwindigkeiten auf- und niedersteigen.

Erhebe ich aber meinen Blick, finde ich mich, soweit das Auge reicht, von glitzernden Türmen, von Kranen und Hellingkrangerüsten umstellt, deren exerziermäßiges, viele Reihen tiefes Hin und wieder Zurück und weit ausladendes Herumschwenken das Gefühl meiner Macht so sehr ins Immense steigert, daß ich mich von ihrem Anblick seit jeher nur schwer zu trennen vermag.

Wenn ich mich danach in eine der zahllosen Hallen begebe, so fahre ich gerne auf meinem kleinen elektrischen Rollwagen die etwa sechs Meter hohen, kastenförmigen Maschinen entlang. Ohne Naht fügt sich eine an die andere. Ich habe sie nie gezählt, glaube aber, mich nicht zu täuschen in der Annahme, daß sich mehrere tausend davon in meinem alleinigen Besitz befinden. Daß sie — abgesehen von einem untergründigen Summen, das man freilich nur hört, wenn man sich regungslos hält —, daß sie, sage ich, ansonsten keinerlei Geräusch von sich geben, vermag mich nicht zu beirren. Vielmehr beweist mir gerade dieser Umstand ihre reibungslose Tätigkeit. Ist solche Stille doch das Ergebnis jahrelanger Experimente in meinen Laboratorien. Sie zu erreichen, habe ich Milliarden meines Kapitals geopfert.

Endlich ist es soweit!

Endlich alles in meinen eigenen Händen vereint! Nicht nur die gesamte Produktion, der Ein- und Verkauf sowie jeglicher Transport, sondern auch die Werbung und sämtliche Korrespondenz, ja, selbst die Überwachung und schließlich die völlig automatisierte Feststellung von Fehlern und deren unverzügliche Reparaturen ... All dies liegt endlich ganz allein in meinen Händen, obgleich, wie ich gestehen muß, der raffinierte Mechanismus all solcher Errungenschaften längst meinem Verstand entglitten ist.

Dies ist mein Reich. Ich habe es selbst erbaut. Nicht mit eigenen Händen, aber mit meinem Geist, meinem Willen, in puritanisch asketischer Gesinnung und mit einem Ehrgeiz ohne Grenzen. m;-

Wenn ich mich heute der ersten Ansätze erinnere! Mir jenen Tag vergegenwärtige, an dem ich heimkehrte aus dem letzten großen Krieg! Meine Dachkammer! Ihr einziges Fenster war mit einigen Brettern beschlagen, durch deren Fugen man hinwegsehen konnte über einen Wald von Schornsteinen und Ruinen.

Ich werde jene Nächte nicht vergessen! Vergessen weder die kalte Zuversicht, mit der ich mich ans Werk machte, noch meine Petroleumlampe, den Tisch und Schemel, das Feldbett und — meine Kostbarkeit: meinen ersten Schraubstock, über den ich damals auch an Wodienenden vom Tagesgrauen bis zur Mitternacht gebeugt stand, unterbrochen nur von jenen knappen Pausen, in welchen ich Mahlzeiten einnahm, die an Kargheit selbst jene der damaligen Strafgefangenen übertrafen.

Hörte ich zwischendurch die Zecher durch die Gassen ziehen, lärmend, singend, schwer vom Wein, so öffnete ich dann und wann mein Fenster und blickte lang hinab; von Neugier erfüllt, doch ohne Neid. Denn es war mir bewußt, daß ich mein Ziel nur erreichen konnte, wenn ich mich weder dem Rausch der Niederlage noch je dem weit gefährlicheren Rausch künftiger Siege hingäbe.

Damals war ich allein, wie ich es heute wieder bin. Und doch, welch weiter Weg liegt dazwischen. Brachte ich zunächst auch nur einen einzigen Mann unter mich, bald waren es zwei. Dann vier, acht, sechzehn und so fort mit den riesigen Sätzen geometrischer Reihen. Bis Hunderttausende sich meinen Befehlen zu fügen hatten. Und bis — ich vermag nicht mehr festzustellen, wann dieser Umschwung einsetzte — zu jenem Zeitpunkt, von dem an die Anzahl meiner Unternehmungen zwar noch unaufhaltsam weiterwuchs, die Anzahl meiner Untergebenen jedoch abzunehmen begann, in umgekehrter geometrischer Reihe. Bis nur noch acht Leute übrigblieben, dann vier, zwei und zuletzt jener einzige Mann, dem ich gestern nacht gekündigt habe.

So bin ich heute allein, wie ich am Anfang war. Freilich, der Anschein trügt. Entwicklungen verlaufen in Spiralen. Und weite Wege sind zurückzulegen, ehe du das Stockwerk über dir erreichst.

Einst waren Berge Berge. Und Flüsse waren Flüsse. Dann kam die Zeit, in der die Berge nicht mehr Berge waren; und Flüsse keine Flüsse mehr. So lang, bis Berge wieder Berge und Flüsse wieder Flüsse wurden ... Bis zur Unersättlichkeit habe ich diese Worte meines Freundes aus dem Fernen Osten vor mich hingesprochen. Und mich zudem gefragt, ob es je möglich sei, historische Bedeutungen von Sensationen und Personen bereits an ihrer Wurzel zu erkennen.

Hat etwa jemand mich durchschaut, damals, als ich heimkam aus dem Krieg? Wer ahnte damals schon, wohin meine Bahn mich führen sollte? Der Mensch, der eben geboren wird, er fällt bestimmt nicht aus dem Rahmen. Aber es gibt Fälle, in denen in der Wiege ein kommender Cervantes liegt, ein Massenmörder oder ein Diktator.

Ich habe keinen einzigen Menschen getötet. Aber ich habe nicht verhindert, ich habe mitgewirkt, ja,, ich habe veranlaßt die Dressur, die Kränkung und den Tod von Millionen. -

Ich habe weder Sohn noch Tochter und wüßte nicht, wem ich mein Reich vermachen sollte. Und doch: mitunter überkommen mich die Zweifel. Vielleicht wäre es an der Zeit, zu übergeben. Nicht einem einzelnen. Nein: Allen. Aber ich vermag es wohl nicht mehr. Vermutlich hat mein Besitz mich schon so gründlich in Besitz genommen, daß nicht mehr ich Herr bin, sondern er.

In tiefem Ernst besteige ich meine Draisine und mache mich aufs neue auf den Weg. Mache mich auf die Suche... auf die Suche, mag sein, nach jenem Mann, den ich aus meinem Haus gewiesen habe.

Anwandlungen von Schwäche. Es liegt kein Grund vor, sie zu leugnen. Denn ich werde sie zu überwinden wissen.

Wenn ich unterwegs in einem der überflüssig gewordenen Rückspiegel mein Gesicht betrachte, ist es mir, als wären meine Züge seit der vergangenen Nacht noch entrückter geworden. So als hätte sich der Stempel unermeßlichen Besitzes nun endgültig in jede meiner Furchen geprägt.

Ich weiß, wovon ich rede, wenn ich behaupte, daß mir nie am Gelde lag, zu schweigen von jedwedem Luxus. Mir liegt nur, an der Macht. Und wenn schon am Geld, so bloß als einem Mittel, Macht zu erreichen oder sie zu stärken.

Halle reiht sich an Halle. Turm an Turm. Eine Staffel hoher Krane an die andere. Welch gigantische, durchaus greifbare Welt, die ich freilich in ihrer Ausdehnung kaum noch zu überschauen vermag. Und doch: zuweilen hege ich den Verdacht, daß diese ganz reale Welt nur noch in meinem Gehirn besteht, i

Dann komme ich in Versuchung — durch einen Griff an einem einzigen Hebel, nein, allein durch einen Druck auf eine Taste, aber was sage ich: heute reicht vermutlich schon eine bloße Anstrengung meines Willens dazu aus — mein Reich mit einem Schlage auszulöschen.

Es wird sich keinerlei Verletzung nachweisen lassen, ganz zu schweigen von irgendwelchen Anzeichen äußerer Gewaltanwendung. Ich müsse eines jähen Todes gestorben sein, wird der Amtsarzt feststellen, wenn er meine Kleider öffnet und der schwache Duft eines teuren Parfüms ihn befremdet. Ein Mann, in bestes englisches Tuch gekleidet, seine Krawatte von schwerer Seide, und deren Nadel ohne Zweifel ein Vermögen wert. Meine halb geöffneten, erstarrten Augen von jenem Seeblau, wie man es gelegentlich bei den Angehörigen alter hanseatischer Kaufmannsfamilien antrifft. Die Gesichtszüge von abweisend trockener Strenge. Und mein Schädel kurz geschoren. Ein Mann von hohem Alter, wie man überrascht feststellen wird. Denn meine ungewöhnlich hagere Statur wird dazu verleiten, mich für jünger zu halten, wenn ich daliegen werde, als hätte mich jemand hinterrücks mit Wucht aufs Straßenpflaster geschmettert.

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