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Der christliche Sinn der Geschichte

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Wir leben in einer Welt, die nach zwei Jahrtausenden christlich geprägt ist. Selbst die Kaltschnäuzigkeit, der militante Atheismus eines Lenin, selbst taktische Lüge und systematischer Terror können die Tat nicht verbergen, die die Herrschaft des Kommunismus über die halbe Welt bis heute ermöglicht hat:

Das freiwillige sibirische Exil von Männern und Frauen, Adeligen wie Lenin, das ihr Schicksal dem des ärmsten Bauern in den Weiten Rußlands gleich machte. Wäre eine solche Tat möglich, ja

auch nur denkbar gewesen, hätte nicht der Christusglaube Rußland seit Jahrhunderten geschüttelt?

In den USA ist die Trennung Kirche-Staat strikter durchgeführt als in Europa. Aber aus den Zügen Amerikas spricht die urkirchliche Schärfe des Gewissens. Man erinnere sich an die Skrupel des Buben Huckleberry Finn, der völlig sich selbst überlassen den Mississippi hinuntertreibend zum Sklavenbefreier wird.

Dieselbe Entscheidung zur Freiheit der Kinder Gottes bewirkte nolens volens den Eintritt der sich selbst genügenden Staaten in die beiden Weltkriege; noch in den Perversionen wie Vietnam lebt der Missionsauftrag wider Wülen weiter, der Amerikas Schicksal ist.

Wir sind den vermeintlich interesselosen, in Wirklichkeit schamlosen Blick in die Geschichte schon so sehr gewohnt, daß solche Deutung auch Gutgesinnten

als gewagt, als „unwissenschaftlich“ erscheinen mag.

Wie in der Biologie das Lebende aus dem Toten erklärt zu werden pflegt — so auch in der Geschichte. Und das ergibt dann moderne Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung, deren Versagen nirgends so deutlich wird wie beim Kapitel Kirchengeschichte.

Denn sie schildern zwar die Greueln der Inquisition und Hexenverfolgung, unterschlagen aber neben den Spuren des Verrates, die am Weg Christi durch die Zeiten zu finden sind, geradezu das Drama, das Geschehen selbst.

Kirchengeschichte hat buchstäblich keinen Sinn, wenn sie nicht Warten auf die Fülle der Zeit, auf das Kommen des Herrn der Geschichte ist, mit dem die nichtzyklische Zeit begonnen hat — siehe Augustinus.

Anders gesagt: Kirchengeschichte ist Fortschritt in der „Bekehrung“ der Welt, ist Menschheitsgeschichte. Die Datierung ab Christi Geburt bezeichnet keine konventionelle, sondern die tatsächliche Wende.

Dieser Christus ist es, der die Väterbindung, die Berufung auf Gott und Götter erweitert um die Dimension der Zukunft. Er lebt, um Nachfolge zu ermöglichen.

Autoren wie Deschner mit seiner Kirchengeschichte als Kriminalgeschichte oder der Mittelalterkrimi „Der Name der Rose“ oder die australische Sage von

den „Dornenvögeln“ erweisen Jesus eine zweischneidige Reverenz, wenn sie ihm bescheinigen, nichts gegen ihn, nur etwas gegen seine Kirche zu haben.

Hier wird Geschichte aus dem Bodensatz gelesen. Hier wird die Kirche festgenagelt auf Untaten der Vergangenheit, während ihr Amt gerade die Taufe, das Ausstrecken des Menschen weg von seinen Vorfahren hin zum lebendigen Gott ist.

„Mit den Augen der reduktioni-stischen Geschichtsanschauung gesehen, ist die Kirche immer ein Versagen, immer eine ärmliche Angelegenheit, immer etwas Erbärmliches, Bankrottes, kurz vor dem Zusammenbruch. Vom Ende her gesehen ist sie immer wunderbar, unaufhebbar, vorbestimmt, voll von Offenbarung.“ —

Erklärter, leidenschaftlicher und beredter Widerspruch in einem immer aufwendiger und geistärmer werdenden Wissenschaftsbetrieb, vor tauben Ohren, das war das Leben des 1973 gestorbenen Eugen Rosenstock-Huessy, eines der Kirchenväter des 20. Jahrhunderts. Seine Laufbahn von der Konversion des gebürtigen Juden, über die schlesischen Arbeitslager, die Arbeiter und Studenten zusammenführten, über die Emigration nach Vermont, 1933, über Harvard bis zu den großen Summen „Soziologie“ und „Die Sprache des Menschengeschlechts“ (1963/64) verdeut-

licht die eine Grunderkenntnis: Die Summe der Teile ergibt kein Ganzes, Geld nicht Wirtschaft, Materie nicht Leben, Machttrieb nicht Politik.

Vielmehr ist es das Wort in seiner Wirkmächtigkeit, das Gemeinschaft bildet, Leben hervorruft, Zukunft gewährt. Anders gesagt (um eine Idee von der Sprunghaftigkeit, der Eile Rosen-stockschen Denkens zu geben): Das Nachher kommt vor dem Vorher.

Rosenstocks Glaubenswissenschaft ist ganz und gar nicht „fromm“, aber tauglich, ist Denken vom Wirken menschlicher Sprache her, womit nicht Rhetorik gemeint ist, sondern Sprach-Handlungen, auf die auch der Österreicher Ferdinand Ebner aufmerksam wurde, oder Martin Buber mit seiner populär gewordenen, bequemeren „Dialogik“. In der Sprache haben die entscheidenden, die gesellschaftlichen Taten ihr objektives Gesetz.

So erfaßt Rosenstock die Folge der europäischen Revolutionen seit Innozenz III. als Antwort auf aufgekündigte Treuebindungen an Christus.

Mit staunenswerter Gesetzmäßigkeit laufen sie alle ab und ergänzen auf einem je größer werdenden Teil des Globus das Mosaik des „einen Leibes“ (Paulus), dessen Glied zu werden Sinn des Christenlebens ist.

Nicht von außen, unbeteiligt,

unerlitten geschehen solche „Wenden“ in der Weltgeschichte, sie sind ein Umsturz der Vertrauensverhältnisse, der Redebefugnisse, der Titel und Eidesformeln, eine Trennung durch Mark und Bein, die über das Individuum, auch über die Generation hinausreicht und in den Erbbesitz der Nationen eingeht.

Rosenstocks opus magnum, „Die europäischen Revolutionen“, unternimmt nichts anderes, als die Revolutionen, auch die „weltlichen“, in die Kirchengeschichte einzubeziehen. Sie sind nicht aus sich selbst verständlich, enthüllen ihre wahre Bedeutung und Berechtigung erst im Blick auf die Fülle, die zu bringen Christus gekommen ist.

Der Autor ist Chefredakteur der Zeitschrift „Familie“. Das Buch „Die europäischen Revolutionen“ erscheint 1987 im Brendow Verlag, Moers.

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