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Der dornenvolle Weg zu akademischen Würden

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Wissenschaft besitzt in der Sowjetunion einen Nimbus des Romantischen. Wissenschaft ist ein Weg zum Wohlstand. Das für die UdSSR gültige Prinzip des Sozialismus (das Karl Marx formuliert hat: „Von jedem gemäß seinen Fähigkeiten, für jeden gemäß seiner Arbeit”) bedeutet, daß jeder seinen Fähigkeiten entsprechend arbeiten und entsprechend der Quantität und Qualität seiner Arbeit entlohnt werden soll. Wer viel vom Leben haben will, muß deshalb seine Fähigkeiten entwickeln. Damit er dann die entsprechende Arbeit und Bezahlung bekommt, muß er die Existenz dieser Fähigkeiten durch ein passendes Dokument bestätigt haben.

Hier ergibt sich eine hierarchische Leiter: die Abschlußbescheinigung der allgemeinbildenden Schule (Reifezeugnis) - das Diplom beim Abgang von der Universität oder von einem Institut - das Magisterdekret (die entsprechenden Posten sind etwa Assistent oder Dozent) - das Doktorat (Doktor der Wissenschaften - entsprechender Posten: Professor) - der Rang eines korrespondierenden Mitgliedes der Akademie der Wissenschaften - der Rang eines ordentlichen Mitgliedes der Akademie der Wissenschaften. Parallel mit dem Aufstieg auf dieser Leiter wächst das materielle Wohlbefinden.

Voraus blickende Eltern sorgen daher schon früh, daß sich die Talente ihrer Sprößlinge gut entwickeln und diese Entwicklung von der Gesellschaft zur Kenntnis genommen wird. Schlechte Noten sind Alarmsignale. Bei ernster Gefahr greifen die Eltern für einen Privatlehrer tief in die Tasche.

Nach- Abschluß der Schule beginnt erst der Ernst des Lebens. Die Schwierigkeit, an eine höhere Schule zu kommen, zeigt sich darin, daß die Aufnahme wettbewerbsartig geregelt wird, und manchmal bewerben sich zehn und mehr Kandidaten um einen einzigen Studienplatz.

Gut haben es in der Regel jene, die bei Schulabschluß eine Medaille erhalten haben, sie sind weitgehend von den Wettbewerbsprüfungen befreit. Im allgemeinen spürt der Studienanfänger sehr wohl den Unterschied zwischen der Atmosphäre der Aufnahmeprüfungen und der Haltung ihm gegenüber in der Schule. Dort gaben die Lehrer gerne eine bessere Note (die ja auch ihrer eigenen Arbeit galt) hier müssen die Prüfer notgedrungen die meisten Prüflinge eliminieren und „erhöhte Anforderungen” stellen.

Wie kann man sich auf diese „erhöhten Anforderungen” vorbereiten? Hat man wohlhabende Eltern, ist die Haupthoffnung Nachhilfe. Diese floriert geradezu und bedeutet eine schöne Extraeinnahme für den Hochschullehrer. Die Lehrer werben öffentlich mit Angabe ihrer Titel und Posten für Nachhilfe, ungeachtet dessen, daß mehr als einmal in der Sowjetpresse festgestellt wurde, Nachhilfe sei unvereinbar mit den sowjetischen Moralnormen. Zwecks Zulassung zum Studium setzen einflußreiche Eltern unsichtbare, oft auch sehr banale Hebel in Bewegung. Vor einigen Jahren erregte ein Bestechungsskandäl am Moskauer Polygraphischen Institut einiges Aufsehen.

Spezielle Bedeutung beim Eintritt in höhere Schulen kommt den „biographischen Besonderheiten”, insbesondere der ethnischen Herkunft, zu. Die Aufnahmekommissionen „regulieren” die ethnische Zusammensetzung der Studenten gemäß den letzten Parteiinstruktionen. Das betrifft vor allem Personen jüdischer Herkunft in Verbindung mit dem „Kampf gegen den Zionismus”.

Auf den Studenten bricht eine Lawine von Anforderungen herein. Die Studien sind bürokratisch geregelt, die Lehrpläne nach Stunden festgelegt, die Anwesenheit des Studenten bei Vorlesungen, Seminaren und Ubungs- stunden obligatorisch. Fälle von Überanstrengung und Nervenzusammenbrüche sind nicht selten.

Das Wissen der Studenten wird nach einer fünfteiligen Notenskala bewertet. Die weitere Karriere hängt zu einem großen Teil von diesen Noten ab, zunächst oft das Stipendium für das nächste Semester. Die meisten Stipendien sind so gering, daß man nicht davon leben kann. Etwa 25 Prozent der Studienzeit sind für „profilierende” Fächer vorgesehen: Militärwesen, Zivilverteidigung, Geschichte der KPdSU, politische Ökonomie, marxistische Philosophie, „wissenschaftlicher Atheismus”.

Größter Traum des studentischen Karrieremachers ist die Zulassung zur dreijährigen Vorbereitung auf den wissenschaftlichen Grad, der dem englischen „Master” entspricht. Von dem Stipendium eines solchen „Aspiranten” kann man bereits leben. Maßgeblich für die Zulassung sind die Prüfungsnoten, die biographischen Besonderheiten, Protektion, die Arbeit des Studenten für die Gemeinschaft, seine bisherigen wissenschaftlichen Leistungen.

Wer in das „Aspirantenstadium” ein- tritt, muß Prüfungen machen. Aus bestimmten Gründen (etwa wegen biographischer Besonderheiten) Unerwünschte, in deren fachlichem Basiswissen kein Fehler gefunden werden kann, läßt man in einem sozialen Fach (etwa Parteigeschichte) durchfallen.

Wichtigster Markstein auf dem Weg des Wissenschafters ist die Verteidi-

gung der Dissertation. Bestimmend für ihr Ergebnis sind die Dienstbeschreibung des Kandidaten (falls er gearbeitet hat), sein ideologisch-politischer Leumund, das Ausmaß des Einflusses einer wissenschaftlichen Aufsichtsperson, Intrigen der Kollegen der letzteren und natürlich die biographischen Besonderheiten.

Verläuft die Verteidigung erfolgreich, muß der Kandidat noch vor der höchsten Zeugniskommission in seinem neuen Rang bestätigt werden. Manche Kandidaten werden jahrelang nicht bestätigt, vor allem beim Titel „Doktor der Wissenschaften,” - oft im Zusammenhang mitdem „Kampf gegen den Zionismus”.

Alle sowjetischen Wissenschafter stehen in Staatsdiensten und hängen - auf jeder Stufe der Hierarchie - völlig von der bürokratischen Parteimaschinerie ab. Sie sind ständig bedroht, aus ihrer Stellung entfernt zu werden, ihre Arbeit aufgeben zu müssen. Andrej Amalrik schrieb, er könne sich zwar einen Streik sowjetischer Fabriksarbeiter, nicht aber einen Streik der Wissenschafter in einem Forschungsinstitut vorstellen. Diese Abhängigkeit zeigte sich deutlich, als die sowjetischen Akademiemitglieder „einstimmig” ihren Kollegen Andrej Sacharow wegen „antisowjetischer Aktivität” verurteilten.

Um so mehr Achtung und Bewunderung verdienen die Dissidenten unter den sowjetischen Wissenschaftern, die bewußt ihre Stellung in der Gesellschaft und oft auch ihre Freiheit aufs Spiel setzen (wie der kürzlich verurteilte Physiker Juri Orlow).

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