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Der dritte Peronismus

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Am 8. Juli übernimmt Carlos Saul Menem das Amt des Präsidenten von Argentinien. Raul Aifonsin ist zurückgetreten, um dem peronisti-schen Sieger das zerrüttete Land zu überlassen.

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Am 8. Juli übernimmt Carlos Saul Menem das Amt des Präsidenten von Argentinien. Raul Aifonsin ist zurückgetreten, um dem peronisti-schen Sieger das zerrüttete Land zu überlassen.

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Argentinien, jenes südamerikani-Bche Land, das vinmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg für hungernde Kinder in Wien Lebensmittelpa-kete schickte, steht nun selber vor leeren Töpfen. Vordergründig, weil die fünfeinhalb AmtsjahredesUCR-Sozialliberälen Raul Alionsin in die Sackgasse führten; hintergründig, weil Argentinien - noch in den zwanziger Jahren eines der reichsten Länder dieser Welt - seit 1930 in ununterbrochenen Krisen abwärts schUttert.

Der Trümmerhaufen gibt dem Peronismus in der Form des „Mene-mismos“ seine dritte Chance. Die erste peronistische Phase (1946 bis

1955) lebte vom Charisma des Juan Domingo Peron. Ideologisch wurde Peron vom klasse akämpferischen Elan der Evita Peron gehalten. Die zweite peronistische Phase (1973 bis 1976) Heß den argentinischen Populismus in Verbindung mit Trotzkisten und linkskatholischen Arbeitern als „LLnksperonismvis“ zunächst wie einen Phönix aus der Asche auferstehen. Dann aber brachen die Widersprüche avi, und die Bewegung wurde beim Bürgerkrieg zwischen linken xmd rechten Pero-nisten zerrissen.

Jetzt tritt - als dritte peronistische Chance - der 59jälu:ige Pro-vinzgouvemeur Carlos SaulMenem an, der „Magier“, der sich parteiintern unerwartet gegen den „modernen“ Antonio Casiero durchsetzen koimte. Menem ist arabischer Herkunft: seine Eltern waren syrische Einwanderer islamischen Glaubens. Menem selbst ist längst zum Katholizismus übergetreten. Allein schon deswegen, weil die argentinische Verfassung dies für einen Präsident-schaftsanwarterverlangtMenemist ein erfahrener ProvinzpoUtiker, dem das elegante Parkett von Buenos Aires nicht unbedingt behagt. Einige bizarre Züge des Hobbyrallye-fahrers mit Playboy-Allüren, der eine lange Mähne \ind einen abste-

henden Backenbart trägt, irritieren ebenso wie sein Hang, in seinen Reden bei einem spezifischen Problem sowohl dafür wie auch dagegen zu sein.

Angesichts des argentinischen Trümmerhaxifens hat Menem ein erstaunlich pragmatisches Kabinett zusammengestellt. Er schwimmt deshalb im Moment auf einer großen Popularitätswelle, denn alle Argentinier wissen, daß es so nicht weitergehen kann. Vorerst wird jede energische Notmaßnahme auf Beifall stoßen. Als A\ißenminister ver-pf Uchtete Menem Domingo Caf alio, den in Harvard ausgebildeten Ökonomen und imter den MiUtärs Präsident der argentinischen Zentralbank. Der Avißenminister wird sich vor allem vim die BOMilliarden Dollar der argentinischen Außenschuld kümmern müssen- die Menem nicht zahlen wüL Miguel Roig, ein nicht peronistischer Ingenieur und früher Manager im führenden Getreidehandelshaus Bimge& Born, übernimmt das wichtige Wirtschaftsressort. Roig favorisiert massive Abwertung, eine neue Währung, Lohnanhebungen für die unteren Einkommensschichten (einen soge-

nannten Salariaso) und Modemi-sienmg der veralteten Infrastruktur nicht nur in Buenos Aires, s sondern in ganz Argentinien. Koordinator für sämtliche Wirtschäftsfra-gen wird Guido Di Telia sein, was zeigt, daß der Peronismus auch weiterhin Intellektuelle anziehen kann.

Was immer Menem tun kann und tun will, das muß er rasch tun. Erstens, weil die argentinische Situation nach den Hungeraufständen im Mai (14 Tote, mehr als hundert Verletzte) unhaltbar geworden ist. Zweitens, weil nicht klar ist, wie lange dieMilitärs - die den Peronismus zweimal abrupt abgesetzt haben - Carlos Menem regieren lassen werden.

Das Bonmot immittelbar nach dem Wahlsieg stimmt freilich nicht mehr - damals ging als Vergleich zwischen der Militärdienstzeit und der Dauer von Menems Präsidentschaft folgendes Wort um: „Was ist der Unterschied zwischen dem Mi-htärimd Menem?“ Antwort: „Sechs Monate I“ Menem ist im Moment viel zu populär, und die Lage ist viel zu verzweifelt, als daß sich die Offiziere jetzt die Finger verbreimen wol-

len- Daß sie jedoch früher oder später gegen den peronistischen Präsidenten putschen werden, gilt in Argentinien als axisgemacht. So sind es vielleicht nur einige Monate, vielleicht ein, zwei Jahre, die Carlos Menem zum Regieren bleiben werden. ,

Menems unvermeidliche wirtschaftliche Schockmaßnahmen werden theoretisch vom Gedankengut des argentinischen Intellektuellen Moises Ikonicoff eingefaßt, der aus dem Pariser Exil zurückkehrte, um sich dem Peronismus ziu: Verfügung zu stellen. Ikonicoffs grundlegende These ist diese: Argentinien sei eine Art OPEC-Land, allerdings ohne den Erdölreichtxmi. Mit den glänzenden Deviseneinnahmen auf der Basis von Agrarexp orten von 1880 bis 1930 gab es die Garantie für hohe Einkünfte, die - so Ikonicoff - eine Rentenkultur hervorgebracht haben. Diese hatte als Folgen: \mif angreiche Staatsausgaben ohne internes Steuer- oder Sparaufkommen; eine ineffiziente, von der „Rente“ verzerrte Produktionsstruktur, die technologisch immer den neuesten Entwicklungen hinterherhinkte; Luxiis-Konsxmi.

Eine starke Tendenz zur Verstäd-’ terung, insbesondere mitdem „Wasserkopf“ Groß-Buenos-Aires, wo heute von den LEisgesamt 30 MiUio-nen Argentiniern ein Drittel lebt; xmd letztUch eine besondere Logik derEntlohnung der Arbeit, dienicht direkt mit der Prodtiktivität zu tun hat, sondern eher mit der Gesellschaft, welche Spekiüanten begünstigt, aber Arbeiter und produktive Unternehmen benachteiligt.

Nach Ikonicoff ist Argentiniens grundlegendes Problem kein ökonomisches, sondern ein kulturellgesellschaftliches. Daher wäre unabdingbar die Verändenmg der Mentalität der Argentinier, weg von der Renten- xmd Spekulationskultur hin zu produktiven Sektoren und Tätigkeiten.

Als Ausweg bietet der Wissenschaftler eine „produktive Revolution“, die Kapital und Arbeit zusammengefaßt in einer peronistischen Sozialpartnerschaft zu einer neuen Prpduktivität führen soll. Ikonicoff betont dabeibesonders die Wiederherstellimg der vöUig verlotterten argentinischen Infrastruktur im Transportwesen, Verkehr, Telefon, rät zur Stadtemeuerung imd zu Maßnahmen für Grundbe-dürfnisbefriedigimg.

Präsident Carlos Menem hat das Schlagwort von der „produktiven Revolution“ zum Kempxmkt seiner rhetorischen Magie vor der Erneuerung Argentiniens gestellt. Die Frage ist nur, wieviel Zeit ihm bleiben wird, sie voranzutreiben.

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