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Der dunkle Bruder Judas

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In letzter Zeit häufen sich Versuche eines tiefenpsychologischen Unigangs mit der Bibel. Das geschieht auf zweierlei Weise. Einmal versucht der Tiefenpsychologe, die biblischen Geschichten für seine praktische Arbeit am Patienten „auszuwerten“. Zum anderen sind manche Tiefenpsychologen, zumal wenn sie aus der Schule von C. G. Jung kommen, überzeugt davon, daß ihre Wissenschaft einiges zur Auslegung biblischer Texte beitragen kann. Wir haben Gerhard Wehr gebeten, den tiefenpsychologischen Umgang mit der Bibel an einem frei gewählten Beispiel darzulegen. Von Gerhard Wehr liegen mehrere Veröffentlichungen über C. G. Jung vor. Im Herbst erscheint von ihm ein Buch unter dem Titel „Analytische Psychologie im Dienste der Bibelauslegung“ (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darms.tadt).

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In letzter Zeit häufen sich Versuche eines tiefenpsychologischen Unigangs mit der Bibel. Das geschieht auf zweierlei Weise. Einmal versucht der Tiefenpsychologe, die biblischen Geschichten für seine praktische Arbeit am Patienten „auszuwerten“. Zum anderen sind manche Tiefenpsychologen, zumal wenn sie aus der Schule von C. G. Jung kommen, überzeugt davon, daß ihre Wissenschaft einiges zur Auslegung biblischer Texte beitragen kann. Wir haben Gerhard Wehr gebeten, den tiefenpsychologischen Umgang mit der Bibel an einem frei gewählten Beispiel darzulegen. Von Gerhard Wehr liegen mehrere Veröffentlichungen über C. G. Jung vor. Im Herbst erscheint von ihm ein Buch unter dem Titel „Analytische Psychologie im Dienste der Bibelauslegung“ (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darms.tadt).

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Der Vorschlag, tiefenpsychologische Erkenntnisse für die Bibelauslegung fruchtbar zu machen, ist keineswegs neu. Seitdem es eine tiefenpsychologische Forschung und Praxis gibt, wird die Bibel des Alten und Neuen Testamentes neben anderen Dokumenten der Religions- und Geistesgeschichte herangezogen, um gegebenenfalls als Interpretationshilfe für den Analytiker und den Patienten zu dienen. Das trifft für alle Psychotherapeuten, besonders aber für den Analytiker Jungscher Prägung zu.

Es versteht sich, daß dieses Verfahren zunächst auf den psychotherapeutischen Sektor beschränkt bleibt. Und doch ist es verwunderlich, daß die Theologie als solche von den hier liegenden Möglichkeiten für das Bibelverständnis bisher noch wenig Notiz nahm. Wer sich heute nach Verständnishilfen für die einzelnen biblischen Bücher umsieht, dem bietet die Theologie eine Fülle spezieller Einzeluntersuchungen und wissenschaftlicher Kommentare an, in denen die Ergebnisse einer jahrhundertelangen Forschung zusammengetragen und auf den jeweils neuesten Stand gebracht sind. Es handelt sich in erster Linie um philologisch-exegetische und historisch-kritische Gelehrsamkeit, die hier ihren Niederschlag gefunden hat. f Tiefenpsychologische Einsichten wurden bisher überhaupt nicht oder nur sehr spärlich berücksichtigt.

Wir wenden uns einer biblischen Gestalt zu, die abseits und im Dunkeln steht: Judas. In der kirchlichen Verkündigung ist ihm eine bestimmte Rolle in der Passionsgeschichte zugewiesen. Warum kommt er eigentlich nur dort vor? Sind wir uns seiner Gegenwart in unserem Christsein und Menschsein etwa nicht bewußt?

Halten wir fest: Auch Judas Ischariot ist einer aus der Schar der Zwölf, jener Judas, der in der Christenheit so viele Ankläger, aber kaum einen Anwalt gefunden hat. Man bedient sich des Judas-Namens, wenn man deklassieren will — wenn einer wie Judas verrät, wenn einer wie Judas den Beutel trägt und schließlich einen Judas-Lohn empfängt. Der Bibelleser hört meist nur das „Wehe“ über den Menschen,„durch den der Menschensohn verraten wird“ (Matthäus 26, 24; Markus 14, 21; Lukas 22, 22). Warum fällt es so schwer, einzusehen, daß das Böse, die Tat des Bösen, die Ausführenden der bösen Tat ihren Ort im Evangelium und damit in der christlichen Heilsgeschichte haben?

An der bezeichneten Stelle der drei synoptischen Evangelisten stellt Judas die Frage: „Bin ich (es, der Verräter)?“ Dem tiefenpsychologisch Geschulten springen diese Worte geradezu in die Augen. Denn im griechischen Urtext steht hier dasselbe „ego eimi“ (ich bin), wie es in den majestätischen selbstoffenbarenden Ich-bin-Worten des johanneischen Christus zum Ausdruck kommt, freilich mit einem deutlich negativen Vorzeichen versehen. Schon die Tatsache fällt auf, daß derjenige, der „weiß, was im Menschen ist“ (Johannes 2, 25), den Judas nicht nur bei sich hat, wie man dann und wann einer Not, einem außergewöhnlichen Umstand gehorchend die Anwesenheit eines Ungebetenen „in Kauf nimmt“. Jesus duldet Judas nicht notgedrungen in seiner unmittelbaren Nähe. Er hat ihn namentlich gewollt und als Apostel bejaht, als er „die Zwölf ordnete“ (Markus 3, 13 f.). Das erwähnte „ego eimi“ des Christus hat demnach ein anderes „ego eimi“ neben sich. Der dunkle Bruder ist dabei, und zwar gewollt.

Die erste Christenheit hat noch instinktiv um die Symbolhaftigkeit der Zwölfzahl gewußt, als sie nach Karfreitag und Ostern durch Zuwahl die Lücke füllte, die durch den Weggang des Judas entstanden war. Sollte Ganzheit durch die Anwesenheit des Bösen mitkonstituiert sein? Wir stehen vor einem Rätsel. Mehr als das: Wir stehen vor dem Mysterium des Bösen. Rätsel lassen sich auflösen. Mysterien aber sind mehrdimensional wie Symbole, die ein Mysterium signalisieren. Es lassen sich erfahrungsgemäß immer nur einzelne Aspekte anvisieren. Der Gesamtumfang von der Macht und Wirklichkeit des Bösen bleibt verborgen.

Im Johannesevangelium begegnen uns wenigstens zwei Aspekte des Bösen, einmal die große kosmische Gegensätzlichkeit von Gut und Böse in der Gestalt der Licht-FinsternisPolarität („Das Licht scheint in der Finsternis ...“) — das ganze vierte Evangelium scheint von diesem Dualismus durchwaltet zu sein. Daneben aber steht ein anthropologischer Aspekt, personifiziert durch Judas, das schattenhafte Ich-bin des Judas neben dem Ich-bin des Jesus Christus.

Doch lassen wir den Bibeltext wie ein Bild auf uns wirken, das angeschaut und meditiert werden will: Da ist die Szene im 13. Kapitel des Johannesevangeliums. Jesus wäscht wie ein Sklave (diäkonos) seinen Jüngern die Füße. Auch Judas ist dabei. Er empfängt nicht nur den Dienst der Liebe, er nimmt auch noch am letzten Mahl teil. „Betrübt im Geist“ ist sich Jesus der Anwesenheit des Verräters bewußt. Und da er im Begriffe ist, ihn zu bezeichnen, tut er es nicht etwa in der Form einer öffentlichen Brandmarkung, also ohne Drohung oder Beschimpfung, wie man Renegaten zu demaskieren und auszustoßen pflegt. Aus demselben Becher und vom selben Brot, mit dem Christus seine Jünger speist, .empfängt auch Judas. Derselbe Kelch und derselbe Brotlaib, mit dem sich der Todbereite identifiziert („Das ist mein Leib, das ist mein Blut“), speist auch den Verräter. Ja, man kann sagen: Die Kennzeichnung des Judas erfolgt in Gestalt des Sakramentsempfangs. Das Ich-bin des Christus und das andere, schattenhafte Ich-bin kommunizieren ...

Daneben die andere Szene (Johannes 18): Die Vorgänge im Garten Gethsemane haben die Künstler vieler Jahrhunderte beschäftigt. Daher hat sich das Geschehen tief ins allgemeine Bewußtsein eingeprägt. Jesus erwartet wachend, betend die Ankunft seiner Häscher, denen Judas den Weg zeigt. Ein letztes Mal spricht Jesus sein „ego eimi“. „Judas aber, der ihn verriet, stand bei ihnen“, notiert der Evangelist. Was Johannes so ins Bild setzt, haben die Synoptiker nicht weniger dramatisch gestaltet. Hatte Jesus beim Abendmahl mit seinem Verräter den Bissen geteilt, so läßt er sich jetzt wie ein naher Freund küssen.

Beide Szenen entsprechen einander. Was aber geht hier vor? Verharmlost Jesus das Böse? Worauf deutet das doppelte Ich-bin hin? Wer nur die Maßstäbe der bürgerlichen Moral anlegt, dem bleibt Jesu Handlungsweise ebenso dunkel wie dem, der vorschnell von Jesu vergebender Liebe spricht.

Die Tiefenpsychologie hat den unserem Abschnitt zugrunde liegenden psychologisch-anthropologischen Tatbestand aufgedeckt. C. G. Jung spricht vom „Schatten“. Er beschreibt dieses Phänomen unter anderem so: „Der Schatten ist ein moralisches Problem, welches das Ganze der Ich-Persönlichkeit herausfordert, denn niemand vermag den Schatten ohne einen beträchtlichen Aufwand an moralischer Entschlossenheit zu realisieren. Handelt es sich bei dieser Realisierung doeh darum, die dunklen Aspekte der Persönlichkeit als wirklich vorhanden anzuerkennen.“

Damit soll nicht gesagt sein, daß der Befund des Seelenarztes eine komplexe Deutung des Bösen schlechthin ins Auge faßte. Das will Jung auch nicht, wie er oft — vor allem Theologen gegenüber — betont hat. Uberflüssig, zu sagen, daß eine auf die Evangelienauslegung angewandte Tiefenpsychologie weder an der psychischen Struktur des historischen Jesus von Nazareth noch an der seiner Zeitgenossen interessiert sein kann. Etwas ganz anderes ist uns wichtig. Es könnte ja sein, daß alles Theologisieren über Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit als Ort der Gottesbegegnung mit Judas nicht oder viel zu wenig rechnet. Judas, wiewohl millionenfach nah, widerfahrbar, bleibt uns meist schattenhaft unbekannt, gesichtslos und damit unbewußt.

Aber offenbar ist es unsere Aufgabe, ihn zu „realisieren“, sich selbst in diesem Schatten zu sehen. Die Psychologie nennt es „Projektion“, wenn das offenkundige Mängelwesen Mensch alles Mangelhafte, Minderwertige, Böse meist nur am anderen sieht. Wir sehen es bei anderen, weil und solange wir es auf den anderen projizieren. Es gelte jedoch, diese Projektionen „zurückzunehmen“. Hier wäre ausführlich von den Widerständen zu berichten, um deren Uberwindung um der Selbsterkenntnis willen Analytiker und Analysand harte Arbeit zu leisten haben.

Was hat das alles mit unserem Evangelium zu tun? Psychologisch gesehen, vollbringt Jesus das, was die analytische Psychologie die Integration des Schattenhaften nennt. Jesus hat auch den Judas gewollt, als er ihn bei seinem Namen rief und in die Zahl seiner Jünger einordnete. Diesen Judas hat er in eine enge Lebensgemeinschaft hineingenommen, Speise und Trank mit ihm geteilt und von ihm noch im Verrat die Zeichen der Freundschaft entgegengenommen. In der Gestalt des Schachers zur Linken blieb Judas noch im Tode an Jesu Seite ...

Was heißt das praktisch? Den Schatten assimilieren, „annehmen“ heißt, das eigene mängelbeladene Ich, aber auch das konkrete Du annehmen, so, wie es ist, frei von Illusionen, seien es positiv oder negativ scheinende Illusionen über uns, die wir in der Regel auf das Du projizieren. Das konkrete Du annehmen, heißt sodann, die „Anderheit des anderen“ (M. Buber) in diesem Du akzeptieren, auch wenn und gerade weil diese Andersheit uns fremd und fern vorkommt. Und da Judas mitten unter („zwischen“) uns ist und die Andersheit des anderen unserer ganzen Zuwendung bedarf, ist Jesu Haltung seinem Jünger Judas gegenüber für uns wichtig. Über unserer Evangelienperikope könnte deshalb stehen, was Jesus seinen Jüngern nach der Fußwaschung gesagt hat: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, auf daß ihr tut, wie ich euch getan habe.“

Daß damit nicht eine äußere Imitation Christi gemeint sein kann, muß nicht eigens hervorgehoben werden, denn gerade die Erkenntnis des Schattens, und das heißt, des zu unserem eigenen Ich gehörenden Schattens, erfordert Selbsterfahrung in der Begegnung und für die Begegnung.

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