6911863-1981_12_01.jpg
Digital In Arbeit

Der Emanzipationswahn

Werbung
Werbung
Werbung

Wir hätten keine konservative Theorie und müßten uns mit konservativer Intuition zufriedengeben - so etwa meinen viele.

Ich halte diese Resignation für gefährlich: Im Zeitalter der Massenmedien und der ideologisch hochgerüsteten Gegner ist die theoretische Basis politische Position, die sich nicht selbst aufgeben will.

Das Fehlen einer konservativen Theorie ist der Grund dafür, daß sich ständig theoretisch hochgerüstete Ideologien durchsetzen und unendlich viel Unheil anrichten - während der unterentwickelte Konservatismus zurückweicht und sich nur nachträglich brüsten kann, er habe es eigentlich doch viel besser gewußt.

Konservativität kann heute nicht auf mystischen Postulaten aufgebaut werden, sondern muß die modernsten Methoden nutzen: Verständnis der Information, der Kybernetik und vor allem der informationellen Unzulänglichkeit des Menschen.

Im Lichte der Kybernetik erscheint der Marxismus als eine stark simplifizierte Abbildung unserer Welt, die auch naiven Betrachtern eingeht und hierbei auch noch unterschwellige Affekte für sich aktiviert. Seine geistige Wurzel ist die Überschätzung der intellektuellen Möglichkeiten des Menschen.

Ausgangspunkt einer kybernetischen Begründung der Konservativität ist ein Verständnis der Information, das vom umgangssprachlichen abweicht: Information als Struktur- und verhaltensbestimmende Einwirkung. Hierzu gehören nicht nur aktuelle Informationen, sondern auch zum Beispiel genetische Information, kulturelle Information (etwa Sprache) - und auch Hoffnungen, Visionen oder Bewertungen.

Information ist quantifizierbar. Man kann beispielsweise angeben, wieviel Information ein Text enthält, wie schnell er mit verschiedenen Medien übertragen werden kann, wie schnell er mit den Sinnesorganen aufgenommen und wie schnell er verarbeitet werden kann. Hierbei stößt man auf die informationeile Unzulänglichkeit des Menschen: Das Bewußtsein des Menschen

ist der Komplexität seiner Welt nicht gewachsen.

Aber die Realität zwingt uns ständig zu Entscheidungen: Woher nehmen wir die hierfür notwendigen Orientierungen? Auf diese Frage ist nur eine einzige Antwort möglich:

Andre Menschen - teils früher lebende, teils gleichzeitig lebende - befanden sich schon in ähnlichen Situationen und waren ebenso gezwungen, sich „irgendwie“ zu verhalten. An ihnen und ihrem Schicksal zeigt sich, welche Verhaltensformen zu guten und welche zu schlechten Folgen geführt haben.

Aus diesem Grund ist der Mensch zwingend auf andere Menschen angewiesen: auf Eltern, Lehrer, Meister, Ärzte oder Richter. Wir sind auf Verantwortung und Vertrauen angewiesen. Dies ergibt sich aus dem informationeilen Mißverhältnis zwischen der Komplexität unserer Welt und dem unzurei chenden Vermögen unseres Bewußtseins.

Hier ist vor allem auf die Überlieferung zu verweisen, die als ein ungeheurer Erfahrungsschatz von menschlichem Verhalten und seinen Folgen verstanden werden kann.

Das Wissen unserer Zeit ist vergleichbar einem komplexen Gitter aus Begriffen, zwischen denen Relationen bestehen - und unser Bewußtsein ist vergleichbar einem Käferchen, das in diesem ungeheuren Gitter herumkrabbelt: Es kann günstigstenfalls zwei oder drei Begriffe und ihre Relationen gleichzeitig erfassen, es gelingt ihm aber nicht, das Gitter in seiner Gänze zu überblicken, seine Ordnung zu verstehen und hierüber allerseits annehmbare Aussagen zu machen.

Unser Wissen ist Stückwerk. Wer absolute Aussagen macht, beweist vor allem sein Unverständnis der menschli

chen Situation. Konservativität ist sich der Grenzen menschlicher Möglichkeiten bewußt.

Konservativität heißt nicht Starrheit oder Sturheit, sondern: Erfahrungen nutzen und Entscheidungen an ihnen messen. Konservativität ist skeptisch gegen Gesinnungsethik: Nicht was man möchte, ist entscheidend, sondern was man anrichtet.

Konservativ ist die Erfahrung, daß angebliche „Fortschritte“ meist darin bestehen, alte Übel durch neue zu ersetzen.

Konservativ ist auch die Einsicht, daß unsere Welt keine Spielwiese ist, sondern daß wir mit Risiken leben und uns in Gefahren behaupten müssen.

Konservativ ist der Zweifel am „neuen Menschen“ und am „Idealstaat“: Wir müssen auch in aller Zukunft mit dem alten Menschen und mit seinen Mängeln auskommen.

In die Irre führen Hinweise auf den Fortschritt der Technik, der angeblich alle Erfahrungen entwertet. Nein: Die Menschen, die mit Kernenergie, Raumfahrt und Computern leben, sind dieselben Menschen wie diejenigen, die einst mit Herdfeuer, Pferdekutschen und Adam Rieses Rechenkünsten lebten.

Zu warnen ist vor den Futurologen, die uns glauben machen wollen, jetzt müsse sich alles wenden, wenn nicht alles enden solle - und sie, sie hätten fertige Lösungen unserer schwierigen Probleme schon in der Tasche.

Nein: Niemand hat solche Lösungen in der Tasche, wir müssen sie gemeinsam mit Sachverstand und Verantwortungsbewußtsein suchen - und die historische Erfahrung ist auch in unserer schnellebigen Zeit ein besserer Ratgeber als alle Futurologie …

Das Leben eines einzelnen reicht einfach nicht aus, die notwendigen Tugenden selbst zu erfinden; jeder muß aus den Erfahrungen anderer lernen …

Unser Standort an den Grenzen der Aufklärung hat sich aber noch nicht überall herumgesprochen. Besonders weit zurückgeblieben ist groteskerweise gerade das, was bei uns als „progressiv“ gilt: Der Emanzipationswahn, der meint, wenn erst einmal „alle“ Zwänge überwunden seien und die „herrschaftsfreie“ Gesellschaft aufgebaut wäre, dann träte endlich glücklich und strahlend der Mensch aus seinen Zwängen hervor…

Aus: „Epoche“ (November 1980). Der Verfasser hält am 2. April einen Vortrag in Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung