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Der Fluch der Kollektivisierung

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„Der Kampf an der Erntefront“ ist Jahr für Jahr eines der Hauptthemen der sowjetischen Presse. In den letzten beiden Jahren, 1971 und 1972, war die Lage an der Erntefront besonders düster. Die sowjetische Landwirtschaft mußte zwei katastrophale Mißernten hinnehmen, die vor allem klimatisch bedingt waren: relativ warme, aber schneearme Winter ließen das Wintere getreide erfrieren, monatelange Dürre im Sommer vernichtete zusätzlich große Teile der Ernte.

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„Der Kampf an der Erntefront“ ist Jahr für Jahr eines der Hauptthemen der sowjetischen Presse. In den letzten beiden Jahren, 1971 und 1972, war die Lage an der Erntefront besonders düster. Die sowjetische Landwirtschaft mußte zwei katastrophale Mißernten hinnehmen, die vor allem klimatisch bedingt waren: relativ warme, aber schneearme Winter ließen das Wintere getreide erfrieren, monatelange Dürre im Sommer vernichtete zusätzlich große Teile der Ernte.

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Ein in der Sowjetunion häufig kolportiertes Scherzwort besagt, daß Mißernten ihren Grund im Gesellschaftssystem eines Landes hätten — sie kämen nur in kommunistischen Ländern vor, nicht aber in kapitalistischen. Darin steckt ein Körnchen Wahrheit. Die niedrigen Ernteerträge gehen sicherlich zum Teil auf Strukturfehler der sowjetischen Landwirtschaft zurück. Trotzdem sind auch klimatische und geologische Fakten ?.n der prekärer. Situation mitbeteiligt. Wegen der langen, harten Winter ist die Reifeperiode im Sommer relativ kurz. Jede extreme Witterungserscheinung in den Monaten Juni und Juli, etwa mehrwöchige Regenfälle oder Trockenheit, hat für die Ernte verheerende Folgen. Wegen der Offenheit des Landes ist es Unwettern auf weite Gebiete schutzlos preisgegeben, während in Mitteleuropa die kleinteilige Untergliederung der Landschaft Witterungskatastrophen meist auf kleinen Raum lokalisiert. Außerdem liegen große Teile des bebaubaren Landes im wenig fruchtbaren mittelrussischen Grauerdegürtel, der natürlich keine hohen Erträge bringt.

Zu diesen traditionellen Schwierigkeiten, mit denen die russische Landwirtschaft schon immer zu kämpfen hatte, kommen jene, die in der Organisationsform der sowjetischen Landwirtschaft begründet sind: in den Jahren 1928 bis 1937 wurde die gesamte Bauernschaft, die bis dahin ihr eigenes Land bearbeitete, in Kollektivwirtschaften (Kolchosen) zusammengefaßt. Heute gibt es in der Sowjetunion 33.600 Kolchosen und 15.000 Sowchosen (Staatsgüter). Das Land ist formell im Besitz der Kolchosen, nur die Sowchosen sind Staatsbesitz. Allerdings haben die Kolchosen wenig tatsächliche Selbstständigkeit und von demokratischer Mitbestimmung in der Verwaltung und Planung der Kolchoseangelegenheiten spüren die russischen Kolchosniki kaum etwas. Der Vorsitzende der Kolchose wird von der Gebietsverwaltung bestimmt und er ist auch allein verantwortlich dafür, daß die Ablieferungsnormen erfüllt werden. Ebenso ist die Art des Saatguts vorgeschrieben (mit Grausen erinnern sich die Russen noch an Chrustchschows diktatorische Vorliebe für Kukuruz), wie auch die staatlichen Ankaufspreise von vornherein feststehen.

Erst in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren wurden übrigens die staatlichen Ankaufspreise so weit angehoben, daß sie wenigstens die Selbstkosten der Kochosen deckten. In der Stalinzeit lagen die Ankaufspreise weit unter den Selbstkosten — die Landbevölkerung wurde zugunsten der Schwerindustrie jahrzehntelang systematisch ausgepreßt. Seit wenigen Jahren erst gibt es eine staatliche Altersversorgung für Kolchosniki, sie erhalten heute eine — wenn auch sehr geringe — Pension. Früher waren Kolchosniki, die wegen Krankheit oder Altersschwäche aus dem Kollektiv ausscheiden mußten, einzig auf Gottes Hilfe angewiesen, sie erhielten von keiner Seite irgendeine materielle Unterstützung. Auch mit der Zuteilung von Brennmaterial für die Bauern gibt es immer wieder Schwierigkeiten: Oft müssen es sich die Bauern aus ihren „eigenen“ Wäldern stehlen.

Es ist verständlich, daß die Bauern unter diesen Umständen nur wenig Arbeitseifer bei der Bewirtschaftung der Kolchosen an den Tag legen. Vielmehr gilt ihr ganzes Interesse dem kleinen Stückchen Privatland, das sie nach ihrem eigenen Gutdünken bebauen können und dessen Produkte sie auf dem freien Mark verkaufen. Auf diesen 0,2 Hektar Privatland verbringen die Kolchosniki die Hälfte ihrer Arbeitszeit. Das Privatland der Kolchosniki entspricht nur 3,3 Prozent der 206,7 Millionen Hektar bestellter Sowjeterde, doch diese 3,3 Prozent liefern zwei Drittel der gesamten Kartoffelernte (in Rußland neben Brot das Hauptnahrungsmittel), sowie fast alles Gemüse und Obst, das in der Sowjetunion verzehrt wird. Auch der Viehbestand des Landes weist eine ähnliche Verteilung auf: jede dritte Kuh und jedes fünfte Schwein befindet sich in Privathand. Während der Erntezeit sind die Kolchosniki natürlich besonders mit ihrem eigenen Land beschäftigt und haben deshalb kaum Zeit, sich der Kollektivwirtschaft zu widmen. Die Kartoffelernte ist fast ausschließlich Sache der Studenten. Statt in die Vorlesungen, gehen sie „in die Kartoffeln“. Manchmal, so wird erzählt, helfen ihnen die Kolchosniki sogar dabei. Ein grusinischer Bauer, der zur Erntezeit mit zwei Koffern Trauben nach Moskau fliegt und s4e dort verkauft, macht trotz des Flugtickets noch einen beträchtlichen Gewinn.

Die ökonomischen Verzerrungen, die sich aus dieser manchmal direkt ans Absurde grenzenden Situation ergeben, werden noch durch die Tatsache verschärft, daß jeder dritte Beschäftigte Sowjetrußlands in der Landwirtschaft tätig ist, im ganzen 26,8 Millionen Arbeitskräfte. Zum Vergleich: in Westeuropa ist nur jeder 10. bis 13. Beschäftigte in der Landwirtschaft tätig. Dennoch herrscht in der sowjetischen Landwirtschaft akuter Arbeitskräftemangel. Daran sind allerdings nicht nur die Privatinteressen der Bauern schuld, sondern auch die hohe Landflucht, der die Regierung auf administrativem Wege Herr zu werden versucht: viele Kolchosniki erhalten keinen Paß und dürfen ihren Bezirk nur mit einer Sondergenehmigung verlassen.

Gegen all diese schweren Strukturmängel weiß die Sowjetische Regierung immer nur ein Heilmittel: die Mechanisierung. Vor allem durch die vermehrte Produktion von Traktoren, Mähdreschern, Lastwagen, Melkmaschinen soll der kranken Landwirtschaft auf die Beine geholfen werden. Dennoch herrscht bis heute spürbarer Mangel an landwirtschaftlichen Maschinen und Transportfahrzeugen. Mähdrescher etwa werden ja nur ganz kurze Zeit im Jahr gebraucht, dann jedoch sehr intensiv. So faßte man den Plan, den Maschinenpark in der Erntezeit von Süden nach Norden wandern zu lassen, da im Süden früher geerntet wird. Doch genügen geringfügige klimatische Verschiebungen oder kleine Stockungen beim Bahntransport, um diesen theoretisch so schönen Plan durcheinanderpurzeln zu lassen. Auf dem Transportsektor ist die Lage nahezu katastrophal. So wird das Getreide meist in alten offenen Lastautos über ländliche Holperstraßen zur nächsten Bahnstation transportiert — ein beträchtlicher Teil des Getreides fliegt mit dem Wind davon. Silos zur Lagerung des Getreides sind meist nicht vorhanden, oft liegt es dann wochenlang offen in den Waggons, egal, ob Sonne oder Regen. Auch Kühlhäuser zur Lagerung von Gemüse und Obst gibt es kaum. Statt der vitaminhungrigen Stadtbevölkerung zugute zu kommen, verfault das Gemüse auf irgendwelchen Verschubbahnhöfen. Drastische Berichte über Vorgänge dieser Art liest man mit schöner Regelmäßigkeit jeden Herbst in den sowjetischen Zeitungen.

Der ideenreiche, aber nicht sehr konsequent denkende Chruschtschow wollte die Getreideproduktion des Landes durch Neulandgewinnung in Mittelasien steigern. Riesige Weideflächen, vor allem in Kasachstan, wurden zum erstenmal unter den Pflug genommen und lieferten in den ersten Jahren tatsächlich sehr hohe Erträge. Da aber die Kunstdüngerproduktion in der Sowjetunion nur wenig entwickelt ist, war der Boden schnell ausgelaugt. Außerdem ist die Erntezeit in Kasachstan, bedingt durch das härtere kontinentale Klima, extrem kurz und nicht immer gelingt es, den nötigen Maschinenpark rechtzeitig herbeizuschaffen — Millionen Hektar nicht abgeernteten Getreides sind auf diese Weise schon unter dem Schnee erfroren. Außerdem ist auch Mechanisierung kein Allheilmittel: Knoblauch, Tomaten oder Petersilie können nicht mit Mähdreschern geerntet werden.

Die Mißernten der beiden letzten Jahre haben die Eigenversorgung des Landes mit Brot und Mehl unmöglich gemacht. Im letzten Jahr wurden im Westen um fast zwei Milliarden Dollar mehr als 20 Millionen Tonnen Getreide eingekauft. An eine grundlegende Reform der sowjetischen Landwirtschaft denkt die Regierung jedoch nicht. Man zog eine personelle Lösung vor: der Landwirtschaftsminister Vladimir Mazke-witsch wurde seines Postens enthoben und teilt damit das traurige Schicksal der meisten seiner Vorgänger. Zu seinem Nachfolger wurde Dmitrij Poljanskij, der erste Stellvertreter Kossygins, bestimmt. Poljanskij war vor einigen Jahren mit dem Vorschlag aufgefallen, die Kolchosniki ihren Vorsitzenden selbst wählen zu lassen.

Die Rationierungsmaßnahmen, die in den letzten Wochen für einige Lebensmittel, vor allem Kartoffel, Milchprodukte, Eier, verfügt wurden, sollten allerdings nicht als Reaktion auf akute Lebensmittelknappheit verstanden werden, sondern eher als Vorbeugung gegen Hamsterkäufe und Spekulation, denn was die Versorgung mit Lebensmitteln betrifft, hegt die sowjetische Bevölkerung seit langem chronisches Mißtrauen gegen die Administration.

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