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Der Flüchtling Jesus

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Auf Herbergsuche war die heilige Familie vor und auch nach der Geburt Jesu, als sie nach Ägypten flüchten mußte. Was hat dieser Bibeltext heutigen Christen zu sagen?

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Auf Herbergsuche war die heilige Familie vor und auch nach der Geburt Jesu, als sie nach Ägypten flüchten mußte. Was hat dieser Bibeltext heutigen Christen zu sagen?

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Die „Flucht nach Ägypten”, von der das Matthäusevangelium berichtet (Mt 2,13-23), ist im Unterschied zu späteren legendarischen Ausmalungen (Verehrung in der Wüste durch wilde Tiere beziehungsweise die nahrungspendende Palme) eine nüchterne Schilderung, wie Gott seinen Sohn beschützt und auf dem Weg „mit ihm” ist; wir sollen so beim Lesen eine Vorahnung vom zukünftigen Geschick Jesu bekommen.

Was wäre aus Jesus geworden, wenn Ägypten damals die Grenzen dicht gemacht hätte ...? Dieser Gedanke führt uns zur Frage nach den Flüchtlingen und ihren Fluchtgründen in der Bibel und der damaligen Welt. Hier zeigt sich deutlich ein Bündel typischer Fluchtmotive, das übrigens durch die Zeiten hindurch bis heute im großen und ganzen gleich geblieben ist.

Da gibt es die politischen Flüchtlinge: vor allem prominente Persönlichkeiten sind hier bekannt, zum Beispiel der ägyptische Beamte Sin-uhe, der im Jahr 1962 vor Christus fliehen mußte, oder David, der vor Saul ins Ausland floh, oder Jerobe-am, der spätere erste König des Nordreichs Israel; die große Masse der Flüchtlinge blieb (wie heute) namenlos.

Selten nur treten manche aus der Anonymität heraus, so Jakob, der vor Esau floh, nachdem er ihn betrogen hatte (Gen 27), Mose, der nach seinem Mord an dem ägyptischen Aufseher nach Midian floh (Ex 2), oder Elija, dem die Königin Isebel wegen der hingeschlachteten Baalspropheten Blutrache ansagte und der auf den Karmel flieht (1 Kön 19).

Vorchristliche Flüchtlinge

Beispiele gibt es auch für jene häufigen Fluchtbewegungen, die durch Trockenheit, Mißernten und Hungersnöte ausgelöst wurden: Abraham (Gen 12), die Jakobssippe (Gen 46), Elimelech und seine Familie (Rut 1).

Gänzlich namenlos bleiben die Flüchtlinge, die sich während der zahlreichen Kriege auf den Weg machten, um in einem Nachbarland Zuflucht zu suchen; solche Fluchtgründe werden zum Beispiel von Jeremia (42,14) klar genannt: „Ins Land Ägypten wollen wir ziehen, wo wir keinen Krieg sehen und keinen Trompetenschall hören und nicht nach Brot hungern, dort wollen wir uns niederlassen.”

Auch allgemein soziale und wirtschaftliche Gründe wie Verarmung oder Überschuldung trugen zur Vermehrung des Flüchtlingsstromes bei. Einer letzten Kategorie von Flüchtlingen gehören schließlich die Sklaven an, die ihren Herrn entlaufen waren (Phlm).

Die Sympathien der Bibel gehören dem Flüchtling, sein schweres Schicksal findet Mitleid: „Wie ein Vogel, der seinem Nest entflieht, ist ein Mensch, der aus seinem Hei^matort flüchtet.” (Spr 27,8) Es ist jedenfalls ein auffälliger und bemerkenswerter Sachverhalt, daß die Bibel gerade von ihren wichtigsten Identifikationsfiguren berichtet, sie seien im Laufe ihres Lebens einmal Flüchtlinge gewesen: Abraham, Jakob, Mose, David, Elija - und Jesus, mit dem seine Eltern nach Ägypten fliehen mußten.

Der für Israels Selbstbewußtsein und für sein Gottesverhältnis absolut grundlegende Auszug aus Ägypten nimmt in der rückschauenden Interpretation sogar die Züge einer Flucht aus dem Sklavennaus an, eine Tatsache, die in zentralen altte-stamentlichen Texten immer wieder in Erinnerung gerufen wird („Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus dem Sklavenhaus befreit hat” - so die Einleitung zum Dekalog) wie auch das Bewußtsein der Heimatlosigkeit der Vorfahren („ein umherirrender Aramäer war mein Vater ...” - als Einleitung zum Glaubensbekenntnis). Zuflucht fanden die Flüchtlinge entweder bei irgendeinem Mächtigen (zum Beispiel David beim Philisterkönig Achis:. lSam 27) oder am Altar einer Gottheit beziehungsweise in einem Heiligtum. Daß das Gastrecht von seiten des Gastgebers eine Schutzpflicht einschloß, gilt nicht nur für den Orient, sondern ist auch für die Mittelmeerkultur belegt, schon bei Homer in der Odyssee (XIII, 57f; XVII, 484ff).

Vorurteile und Verachtung

Besonders argwöhnisch stand der römische Staat dem Asylwesen gegenüber; Kaiser Tiberius ordnete eine umfassende Beschneidung des Asylrechts an. Das Asylwesen als Institution erscheint hier als ein Hort der Unordnung, des Aufruhrs und Verbrechens, dessen mißbräuchliche Ausbreitung eingeschränkt werden müsse, wenn die Rechtsordnung nicht Schaden nehmen soll: „Die Tempel füllten sich mit dem übelsten Sklavengesindel. Ebendort fanden auch Verschuldete Schutz und Aufnahme gegen ihre Gläubiger und sogar Leute, die im Verdacht eines Kapitalverbrechens standen ...”, schildert Tacitus die Sachlage (Ann. III, 60).

Mit der Unsensibilität gegenüber den Leiden der „kleinen Leute”, die in ihrer Ausweglosigkeit im Asyl Zuflucht suchten, findet sich hier bereits das Syndrom von Vorurteilen und Verachtung, das die Sprache in bezug auf Flüchtlinge bis heute kennzeichnet. In diesem Punkt ist der römische Staat als negatives Beispiel bis heute vorbildlich. Lösungen werden hier nicht im Eingehen auf die Betroffenen und ihre Probleme gesucht, sondern unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung der Macht.

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Christinnen heute? Eine erste betrifft den Maßstab für Denken und Handeln. Christinnen können sich nicht am antiken (und modernen) Römertum orientieren. Für sie steht die biblische Orientierung im Vordergrund: „Wenn ein Fremder bei dir in eurem Land sich aufhält, so sollt ihr ihn nicht bedrücken: wie einer von euch soll euch der Fremde gelten; du sollst ihn lieben, wie dich selbst, denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten” (Lev 19,33f).

Und im Neuen Testament fragt der als Weltenrichter erscheinende Menschensohn die zum Gericht Versammelten ausschließlich nach ihrem Verhalten zu den Geringsten, mit denen er selbst identisch ist und in denen er uns präsent bleibt (Mt 25,31-46, besonders V.40!).

Eine zweite Konsequenz betrifft die praktische Verwirklichung des Asylrechts in einer Welt, wo dieses Grundrecht immer mehr beschnitten wird; sie führt zwangsläufig zu einer Konfrontation mit unserem Staat. Der staatlichen Aussage, daß kirchliches Handeln nicht im Widerspruch stehen dürfe zum Willen des staatlichen Gesetzgebers, dürfen Christinnen sich nicht beugen.

Heimat Geben

Eine dritte Konsequenz für Christinnen heute ist eine politische. Die österreichischen Bischöfe formulierten sie in ihrem Sozialhirtenbrief 1990 zur neuen sozialen Frage so (Nr. 91): „Zu dieser neuen sozialen Frage gehört heute in besonderer Weise das Problem der Flüchtlinge und Einwanderer. Wir wissen, daß sowohl einzelne wie auch Gemeinden ein hervorragendes Zeugnis der Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft abgelegt haben.

Wir wissen aber auch um bedauerliche Ereignisse und um unchristliche Vorurteile. Wir werden uns noch viel mehr bemühen müssen, die Vorurteile Fremden und Ausländern gegenüber abzubauen und solchen Menschen nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine mitmenschliche Heimat zu geben. Dazu bedarf es der Solidarität aller, auch die Bereitschaft zu einem innerstaatlichen Lastenausgleich.

Es ist nicht hinzunehmen, daß Flüchtlinge und Einwanderer in ein Ghetto abgesondert werden. Sie brauchen Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben. Wir gehen auf eine Welt zu, in der die nationalen und politischen Grenzen durchlässiger werden. ... Jeder Rückfall in eine nationale Überheblichkeit widerspricht dem Geist der Menschenrechte und ist zutiefst unchristlich.”

Aus dieser Verantwortung für solch notwendiges Verhalten können wir Christinnen uns nicht davon-„flüchten”.

Der Autor ist Leiter der Abteilung für Einleitung und Zeitgeschichte am Institut für Neutestamentliche Bibelwissenschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg.

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