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DER FLUG DER WILDGANSE

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Heute von Europareife zu sprechen bedeutet vielerlei: Zum einen ist damit natürlich Europa gemeint, eine philosophische Idee, eine geographische Angabe, ein politischer Begriff, eine sozio-ökonomische Größe und anderes mehr. Zum anderen impliziert Europareife auch die Vorstellung, daß etwas reife, wachse, selbständig, fast ohne Zutun werde oder geworden sei. Schon jetzt wird sichtbar, wie komplex das „Unternehmen Europa" in der Tat ist.

Europa selbst macht klar, daß es längst nicht mehr nur um (kriegsstiftende) Schwerindustrie-Politik geht, sondern daß eine neue gemeinsame Ausrichtung in der Organisation von wirtschaftlicher Zusammenarbeit vonnöten ist, daß es um eine gemeinsame Außen-und Umweltschutzpolitik geht und daß dies alles nur bewältigbar ist, wenn es auf dem Gebiet der Bildung, Forschung und Technologie zu einer Neudefinition von Kooperation kommt. Europa - eine gemeinsame Anstrengung unter der Maßgabe der Beibehaltung von Eigenidentitäten und spezifischen Länderprofilen.

Europa ist in Bewegung. Das muß es notwendigerweise sein, weil es sich von alten innereuropäi sehen Vorherr-schaftsansprüchen weiter emanzipieren muß, um an ihre Stelle eine demokratische Praxis treten zu lassen. Bindung in Freiheit (als Freiheit zur Bindung), die alte Idee der abendländischen Aufklärung, erfährt damit eine große Herausforderung. •

Europa darf nicht nur vom Eiffelturm oder von der Tower-Bridge aus gesehen werden oder vom Funkturm in Berlin. Europa hat seine Wiege in Ägypten, es hat seinen philosophischreligiösen Ursprung im Vorderen Orient. Ein Europäer hat zumindest drei Hauptstädte, nämlich Athen, Jerusalem und Rom, hörte ich jüngst einen klugen Europäer sagen. Dem ist zuzustimmen, ist doch Europa nicht nur vor dem Hintergrund des italienischen Bildungsbürgers der Renaissance, des französischen Citoyen oder des britischen Kaufmanns zu sehen. Vergessen wird zumeist, daß zwischen dem Rhein und dem Ural ein Europa liegt, in dem sich der einzelne über Jahrhunderte dem Schutz des Stärkeren zu unterwerfen gewohnt war, in dem Protektionismus und Abhängigkeitsdenken das allgemeine und besondere politische Handeln bestimmten.

Ob Österreichs Schulen europareif sind, ist gefragt. Sie sind es und sind es zugleich nicht. Zum einen: Die bürokratisch organisierte Anstaltsschule ist kein genuines Produkt einer republikanisch aufgeklärten Gesellschaft. Lehrpläne als Produkt des Spiels gesellschaftlicher Mächte sind in Österreich im wesentlichen politisch paktierte sozialpartnerschaftlich orientierte Ergüsse: Diejenigen, die sich gerne schulische Erneuerer nennen, greifen unter dem Titel „Reform" zurück auf pädagogische Ansätze aus der Jahrhundertwende (Reformpädagogik).

Aus dem Erlebnis der (selbstbetriebenen) Entideologisierung führen sie alte Mythen wieder ein, lassen das „Herz sprechen", das „Leben herrschen", das „neue Miteinander" (alle sollen mit allen in einer Schule alles lernen) zur Wirkung kommen. Sie bemerken dabei nicht, daß Vernunfttrübung und pure Ernotionalisierung den Wurzelstock für politische Verwirrungen gebildet haben, aus denen sich unser Land nur schwer erholen konnte.

Auf der Strecke bleibt zumeist das „klassische Wissen", das autonome Subjekt, das Opfer einer Verunglimpfung als „Verkopfung" wird beziehungsweise wurde. Schule als Ort der idyllischen Anstrengungsvermeidung. Ob man solcherart für die Zukunft, für den Neu-Entwurf einer Europa-Idee gerüstet ist, bleibt zu bezweifeln.

Zum anderen: Österreich steht in Europa nicht so schlecht da, wie manche glauben machen wollen. Verschiedene Schul- und Lehrabschlußzeugnisse bedürfen künftig (das heißt in der EG) keiner Anerkennung mehr und eröffnen mobilen Menschen grenzüberschreitende Bildungswege und eine freie Berufsausbildung.

In einigen Sparten bedarf es der Ergänzung, zum Beispiel durch Fachhochschulen (Anerkennung von Ingenieurinnen als Akademikerinnen). Sowohl Österreichs Schülerinnen und Studentinnen als auch Lehrlingen und Arbeitnehmerlnnen stehen europäische Aus- und Weiterbildungsprogramme offen, die sie nützen können, die sie nützen müssen, um sich künftig selbständig etablieren zu können.

Der entscheidende Punkt ist erreicht.

Wer Europa als enges, historisch angegrautes, ökonomisch verengtes Konzept betrachtet, der muß von unseren Schulen wahrscheinlich ein wenig mehr Berufsorientierung verlangen, sonst nichts. Wer Europa allerdings als unwiederholbare, umfassende, kulturelle Herausforderung ansieht, der muß sich künftig auf eine größere Bildungsanstrengung einstellen.

Junge künftige Europäer müssen in der Geschichte „zu Hause" sein, die Eigenheiten der unterschiedlichen Literatur-Genres kennen, in den Naturwissenschaften firm, aber nicht verengt sein, sie müssen Sprachen beherrschen, ohne Länder und Regionen beherrschen zu wollen, sie müssen ethisch verantwortlich denken und handeln, um sich subsidiär zu organisieren.

Sie müssen „den Flug der Wildgänse studieren". Unter diesem Motto wird in Asien (bei den „fünf Tigern") eines der größten Wissens-Projekte entwickelt, in welchem es darum geht, die Einheit in der Vielfalt zu suchen -dem Prinzip der größtmöglichen Freiheit des einzelnen (der Person, der Region, der staatlichen Einheit) bei größtmöglicher Nutzung gemeinsamer Ressourcen. Eigentlich eine europäische Unternehmung.

Dr. Gertrude Brinek ist Universitäts-Assistentin am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien und Abgeordnete zum Wiener Landtag und Gemeinderat.

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