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Der Gang zum Tor

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Was hat denn", fragt Miriam leise, „die Oma auf einmal für ein komisches Kinn?"

Das Kinn ragt spitz gegen die Zimmerdecke. Wie Stricke spannen sich die Halssehnen unter der Haut. Durch den verzogenen Halsausschnitt des Nachthemds sieht man einen mit blaßrosa Heftpflastern festgeklebten Verband. Blut rinnt durch einen Plastikschlauch. Wenn ich meiner Mutter zu trinken gebe, muß sie husten.

Behutsam lasse ich ihren Kopf, der in meiner Hand liegt, auf den Polster zurücksinken und beginne sie zu streicheln. Das Haar, in dem das Grau von Tag zu Tag stärker hervorwächst, die Stirn, die sehr durchsichtig geworden ist, den Jochbeinbogen, die Schläfe. In den verblassenden Augen keine Angst mehr wie gestern, nur Staunen.

Gestern, als wir sie noch verstanden haben, hat sie erzählt, ihr Vater war da. Ja, ganz einfach zur Tür ist er hereingekommen und hat sich zu ihr ans Bett gesetzt. Heute verstehn wir sie nicht mehr, auf der Morphiumwelle kommen die Vokale und Konsonanten aus der Balance. Vermutlich versteht sie uns auch nicht mehr. Aber vielleicht sind Worte gar nicht so wichtig. Zumindest nicht an dieser Grenze.

Es muß sein wie ein Traum, denke ich, erst langsam, dann immer schneller schwimmst du hinüber. Und drüben? Was ist drüben? Hängt das nicht davon ab, wie wir uns von hier loslösen, was wir von hier mitnehmen, was man uns von hier mitgibt? Ja, ich weiß Mutter, es sind nicht die idealen Umstände, unter denen unsereins stirbt. Es sind genaugenommen elende Umstände, die Sterbetechnologie der Spitäler ist eine Zumutung, aber ich bitt dich, vergiß es. Laß das zurück, es beschwert, wir wollens dir erleichtern. Der Priester hat dir die letzte Ölung gegeben, Sonja hat dir einen Buddhaknoten umgehängt, was kann ich für dich tun? Ich bin doch ein Träumer, hast du immer gesagt. Gut. Jetzt, da die Träume für dich Wirklichkeit werden, will ich meinen Teil dazu beitragen:

Komm, ich weiß, daß es geht -zwischen uns besteht doch eine drahtlose Verbindung. Wie ich damals, als ganz junger Mann, mit dem überfüllten Zug aus Italien zurückgekommen bin und auf meinem Koffer sitzend gesungen habe, damit ich nicht einschlafe und aus der Tür falle, da hast du mich gehört. Als ich um sechs Uhr früh geklingelt habe, bist du (obwohl meine Rückkunft nicht angekündigt war) schon wach gewesen und hast auf mich gewartet. Heute nacht, hast du gesagt, hast du gesungen, nicht wahr, und zwar so laut, daß ich in dein Zimmer gegangen bin, um zu sehn, ob du schon da bist.

Das gibt's nicht, hat mein Psychologieordinarius gesagt, die Gehirnströme wirken maximal anderthalb Zentimeter über die Schädeldecke hinaus. Na und wenn schon, Mama. Was interessiert uns jetzt die Meinung eines Wissenschaftlers? Wir zwei wissen es besser! Also komm. Laß mich in deinen Traum hinein. Ich will eine Episode dazu beisteuern.

Eine schöne Episode. Eine, auf die du dich leichter und freier fühlst.

Stell dir vor, wir zwei sind in San Quirico, dem Ort meines Herzens. Ja, dorthin hätte ich dich gern einmal mitgenommen, aber dann bist du krank geworden. Egal. Vergiß deine Krankheit. Wir sind jetzt dort. Und wir gehen mitsammen die Straße Richtung Vignoni hinauf, keine Einwände, du schaffst es. Die Straße führt sanft und dann etwas steiler bergan. Links und rechts Zypressen und Weingärten, weiße und rote Häuser, darüber ein sehr hoher Himmel. Spürst du die Sonne? Riechst du den Ginster? Hörst du die Lerchen? Nein, es ist nicht zu heiß für dich. Es ist Frühling. Na also. Nicht wahr? Da schau, eine Eidechse! Unter den Steinen am Wegrand findet man schöne, ho-nigfarbene Stücke Onyx, die hab ich für Miri gesammelt.

Merkst du, hier oben weht ein ganz anderer Wind. Vignoni alto—das heißt das hohe Vignoni. Hast du schon je so eine blaue Luft gesehn? Aber wart, es kommt noch besser! Da unten schlängelt sich der Orciaf luß. Auf seinen großen, flachen Steinen ist fein liegen. Jetzt geht es gleich ein erleichterndes Stück bergab. Du siehst schon den Turm von Vignoni — darunter ist ein Brunnen. Da sprudelt ein Wasser heraus, ich sag dir, ein Wasser! Also wenn du diesen Weg hinter dir hast und dort trinkst, so ist es das beste Wasser auf der Welt. Und dann gehts zum einen Tor hinein und zum andern Tor hinaus.

„Papa, die Oma ist eingeschlafen", sagt Miri.

,Ah ja?" sage ich und brauche eine Weile, um zurückzukommen. Meine Mutter schläft wirklich.

Vielleicht braucht sie nicht mehr zurückzukommen. Vielleicht wird sie nicht mehr aufwachen. Vielleicht sieht sie, was ich nicht mehr sehe.

„Papa, bist du traurig?" fragt Miriam.

„Ich weiß nicht", antworte ich. „Vielleicht besteht gar kein Grund dazu."

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