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Der Geist der Schrift gegen die Bilderflut

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Der neue Analphabetismus greift um sich. Immer mehr Menschen in Österreich haben Schwierigkeiten mit dem Schreiben und dem Lesen. Was sind die Ursachen des Übels? Wie wollen die Schulen und die Erwachsenenbildung auf die neue Herausforderung antworten? Die alarmierende Lage fordert Taten.

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Der neue Analphabetismus greift um sich. Immer mehr Menschen in Österreich haben Schwierigkeiten mit dem Schreiben und dem Lesen. Was sind die Ursachen des Übels? Wie wollen die Schulen und die Erwachsenenbildung auf die neue Herausforderung antworten? Die alarmierende Lage fordert Taten.

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Wo das Bild regiert, zieht sich die Schrift zurück. Der Vorgang ist bedenklich; er stellt das Gefühl letztlich über den genau formulierten Gedanken. Die Empfindsamkeit mag mehr Raum gewinnen, auch mehr Tiefe, doch fehlen ihr die Mittel, rationelle Gedankenketten zu bilden. Selbst die vorerst formlosen Ahnungen, Ängste und Visionen bedürfen, sofern sie begriffen werden wollen, der Sprache. Sie ordnet, schafft Distanz, gibt dem Stammeln und dem Jauchzen gegliederte Form. Die Schrift führt um einen Schritt weiter. Ihr ZeichenSystem macht Sprache mitteilbar und verbindlich. Das Element der Dauer kommt dazu. Ein Brief kann nach dem Empfang zweimal und dreißig Jahre später abermals gelesen werden. Unterschiede der Interpretation sind unerheblich, die Vernunft bleibt aufnahmebereit. Der Verstand ist es, der die Verständigung ermöglicht.

Das gegenwärtige Vordringen der Bilder wurde von der Ratio ermöglicht. Das Fernsehen, die Illustrierte, der Film, das Plakat sind Ergebnisse hoher technischer Rönnerschaft. In dieser triumphieren die Naturwissenschaften. Keine Bilderflut ohne die Entdeckungen der Physik und der Chemie. Das Paradoxon ist in diesem Fall fürwahr grotesk: die Errungenschaften des rationell vorgehenden Verstandes sind es, die die Schrift und mit ihr die genaueste und rationellste Form der Mitteilung verdrängen. Man glaubt, ein geheimnisvolles Gesetz des Ausgleichs am Werke zu sehen: die wissenschaftliche Vernunft erzeugt, an einem Höhepunkt angelangt, ihre eigenen Gegenkräfte. Seitdem wir zum Telefon greifen können, schreiben wir selten Briefe. Die Spontaneität des gesprochenen Wortes enthebt uns der Pflicht der genauen Formulierung. Das wirkt auf das Denken.

Die Unterschiede zwischen Bild und Schrift sind am Beispiel des Fernsehens zu studieren. Dort überwiegt das Optische. Die schnelle Bilderfolge zwingt zur Vereinfachung. Das Fernsehen zeigt die Welt holzschnittartig; für feinere Abstufungen der Charakterisierung bleibt meist keine Zeit, zudem ist es unmöglich, in einem Fernsehspiel zurückzu-blättern. Seit der Erfindung des Videorecorders wäre eine Wiederholung technisch möglich; es besteht aber kaum die Neigung, den Film zurückzuspulen. Der Grund liegt in der Natur des Mediums, das vor allem die Gefühle anspricht. Empfindungen bleiben aber unwiederholbar.

Die Schrift ist freilich im eigentlichen Sinn des Wortes ebenfalls eine Technik. Ihre Vorteile gegenüber den Bilderreihen haben sich im Ubergang von der Bilderschrift zum Alphabet erwiesen. Dabei spielten auch vordergründige Ursachen eine Rolle. Es ist einfacher, mit dreißig oder vierzig Buchstaben umzugehen als mit vielen hundert ägyptischen Hieroglyphen oder chinesischen Begriff ssymbolen. Das Wesentliche aber betrifft die Phantasie.

Wer Bilder aufnimmt, bildet sich etwas ein. Wer mit Buchstaben umgeht, muß auf Grund der chiffrierten Botschaft die Bilder selbst erschaffen. Jemand, der Bilder betrachtet, verinnerlicht zwar die Bedeutung einer Abbildung, ist aber nicht gezwungen, selbst tätig zu werden und vor dem inneren Auge ein Bild erscheinen zu lassen.

Auch der Besuch einer Gemäldegalerie kann seelische Kräfte in Bewegung setzen, die schöpferisch wirken können; das Lesen aber verpflichtet zur schöpferischen Phantasiearbeit. Die Schrift duldet keinen Konsumenten; der Leser wird, indem er die Zeichen in der eigenen Phantasie zum Leben erweckt, in einen Produzenten verwandelt.

In diesem Sinne ist das Buch ei-• ne der feinsten und höchsten technischen Errungenschaften der Menschheit. Der Vergleich mit Schriftrollen zeigt den Unterschied. Im Buch sind auf engstem Raum kompakteste Inhalte verdichtet, und zwar so, daß wir die kunstvoll gefalteten und fest eingebundenen Papierbögen leicht handhaben können. Das war bereits bei den handgeschriebenen Kodizes der Fall. Gutenbergs Erfindung machte dann auch ncch die Vervielfältigung möglich. Durch den Buchdruck wurde ein Höhepunkt erreicht.

Er war zugleich eine Sternstunde des Individualismus. Bis dahin war die sprachliche Mitteilung, von den einsamen Kodexlesern abgesehen, eine Sache des Kollektivs. Die Sänger der Heldenlieder, die Märchenerzähler traten vor Menschengruppen in Erscheinung. Ihr Repertoire konnte sich dann durch die mündliche Uberlieferung weiter verbreiten, doch wirkte das Wort auch in diesem Fall auf Menschenmassen — genauso wie die Fresken mittelalterlicher Gotteshäuser. Auch die Bilder dieser biblia pauperorum waren für die große Gemeinschaft bestimmt.

Bis heute wendet sich die Bilderwelt des Films, des Fernsehens, der Illustrierten an ein breites Publikum. Ob jemand die Bilder allein oder in Gesellschaft betrachtet, spielt dabei keine Rolle. Das Bild ist in diesem Fall eine schnelle und leicht faßliche Mitteilung an Menschenmassen, nicht anders als die abstrakten Hinweis-Symbole in den Flughäfen oder in der U-Bahn.

Das Buch ermöglicht es, die eigene Lektüre selbst zu wählen. Hier ist die Gleichzeitigkeit der Kenntnisnahme eines Inhalts aufgehoben; jeder liest, was er

„Der gute Lehrer und der schlechte Schulmeister sind Parallelfiguren“ will. Deshalb wäre eine Krise des Buches ein Zeichen dafür, daß die Individuen einer Gesellschaft dabei sind, ihren Anspruch auf persönliche Freiheit aufzugeben.

Hier liegt die tiefere, über Prestige und Lernerfolg hinwegzielende Verantwortung der Schulen. Sie haben technische Fertigkeiten wie das Schreiben und Lesen, zudem Kenntnisse und schließlich — oder an erster Stelle — Kultur zu vermitteln. Im glücklichen Fall öffnen die Kenntnisse den Sinn für die geistige Substanz. Die Frage betrifft nicht allein die pädagogische Methodik; sie führt zur Persönlichkeit des Lehrers.

Der Stand selbst ist, zumal seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht, für die Gesellschaft lebenswichtig. Das wurde und wird meistens nicht wirklich anerkannt. Der gute Lehrer und der schlechte Schulmeister waren seit jeher Parallelfiguren. Die Schwächen sind bedauerlicn, aber menschlich; gegen die Un-vollkommenheit der Dinge ist kein Kraut gewachsen. Schwieriger wird es, wenn der Lehrer die ethische Dimension seines Berufes auch prinzipiell mißachtet. Das ist in der Gegenwart oft der Fall. Lehrer sein ist für viele nur ein Job unter vielen. Lange Ferien entschädigen für kärgliche Bezahlung. Die große Zahl guter Lehrer wurde von der Öde solcher angeblichen Sachlichkeit freilich nicht erfaßt. Manches bleibt dennoch alarmierend.

Kann Schreiben und Lesen richtig vermittelt werden, wenn nicht aus dem Geiste der Kultur? Es heißt, manche Lehrer sind keine Leser, sondern ebenfalls Verführte der Bilderflut. Werden sie in der Lage sein, den praktischen Wert und den subtilen Zauber des geschriebenen Wortes gleichermaßen zu vermitteln?

Eine Gesellschaft, die auf die Schrift zum Teil verzichtet, fällt in die Dumpfheit eines erregten Dämmerzustands zurück. Es kann sich in ihr viel Fachwissen kumulieren, allein, die Menge an Kenntnissen reicht nicht, den Verstand zu schärfen. Es gibt gebildete Dummköpfe ohne Zahl.

Die neue Form des relativen Analphabetismus ist freilich schwer zu orten. Die technische Fertigkeit des Schreibens und des Lesens ist, in verschiedenen Abstufungen der Perfektion, wohl Allgemeingut. Damit ist viel erreicht, das wesentliche Ziel dennoch verfehlt: die Schrift als verdichtete, gleichsam kristallinische Form der sprachlichen Mitteilung zu begreifen.

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