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Der Geist des Winterkrieges

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Am 30. November 1939 begann Stalin den Krieg gegen Finnland. Vorausgegangen war enormer politischer Druck. Das kleine Finnland trotzte aber dem mächtigen Diktator.

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Am 30. November 1939 begann Stalin den Krieg gegen Finnland. Vorausgegangen war enormer politischer Druck. Das kleine Finnland trotzte aber dem mächtigen Diktator.

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Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 machte die Politiker in Helsinki besonders nervös. Als Realpolitiker konnten sie sich - auch wenn sie damals noch keine Kunde von einem den Hitler-Stalin-Pakt ergänzenden Zusatzprotokoll haben konnten - leicht ausrechnen, daß der Moskauer Handel nicht allein den zwischenstaatlichen Beziehungen der beiden Diktaturen dienen sollte. Die hellhörig gewordene finnische Regierung versuchte noch im August und in den folgenden Monaten, ihre außenpolitisehen Positionen zu festigen beziehungsweise sich für eine bevorstehende Krise neue Freunde zu sichern, y

Man kannte nämlich die Russen. Finnlands Schicksal war - von Polen abgesehen - immer enger mit Rußland verknüpft als das jedes anderen europäischen Landes. Jahrhundertelang Aufmarschgebiet der kriegswütigen Schweden gegen das wachsende Russen-Reich, gehörte Finnland seit 1809 als autonomes Großfürstentum zum europäischen Teil des Imperiums der Romanow.

Als 1917 die Wirren der Revolution über das Zarenreich hereinbrachen, bekamen die Finnen als einzige - Lenin hatte das allen Minoritäten des russischen Imperiums versprochen - die staatliche Unabhängigkeit; selbstverständlich nicht kampflos. Finnland mußte eine Art Bürgerkrieg austragen, einen Kampf der „Roten“ gegen die „Weißen“. Mit deutscher Hilfe konnte der bolschewistische Spuk in diesem Teil Nordeuropas gebannt werden. Lenins Erbe, Stalin, gab jedoch nie die Hoffnung auf, Finnland in den Verband der Union der Sowjetrepubliken zu integrieren.

In der Zwischenkriegszeit versuchte Finnland mit Erfolg seine politische und wirtschaftliche Rolle in Europa zu festigen. Großbritannien und Deutschland waren seine wichtigsten Handelspartner. Der britische Anteil am finnischen Außenhandel betrug zum Beispiel 193832,7 Prozent, der deutsche 17,4 Prozent. Der Handel mit dem mächtigen Nachbarn, der Sowjetunion, blieb dagegen unbedeutend. 1938 lag der Sowjetanteil bei einem Prozent.

Auch innenpolitisch erwies sich das kleine Land (1938 hatte Finnland nicht einmal vier Millionen Einwohner) als recht stabil. Es hatte ein auf dem allgemeinen Wahlrecht basierendes politisches System, in dem erstmals in Europa auch das Frauenwahlrecht verankert war. Die Sozialdemokraten waren die stärkste Partei, konnten jedoch allein nicht die Regierung stellen. Agrarier, Konservative, Liberale und die Schwedische Volkspartei bildeten die Hauptströmungen der Parteienlandschaft. In den dreißiger Jahren spielte auch eine rechtsradikale Partei eine Rolle, während die Kommunisten, deren Partei in Moskau nach dem Bürgerkrieg gegründet worden war, von der finnischen Regierung verboten wurde und in der Illegalität ihr Dasein fristete.

Die außenpolitischen Beziehungen Finnlands waren recht kompliziert. Das Verhältnis zur Sowjetunion blieb trotz eines Nichtangriffspaktes aus dem Jahre 1932 gespannt. Mit Schweden gab es territoriale und nationale Konflikte um die Alandinsel, zu Deutsch-' land kühlten die Beziehungen nach Hitlers Machtergreifung ab. Großbritannien und Frankreich waren J,weit weg. So sah sich Finnland . zunächst auf die Zusammenarbeit mit den baltischen Staaten - damals freie Republiken - verwiesen. . Die Furcht der Finnen vor Stalins Rußland war begründet. Am 5. \ Oktober 1939, dem Tag, an dem die Sowjetregierung die bürgerliche Republik Lettland durch einen ihr aufgezwungenen Beistandsvertrag an sich gefesselt hatte, lud der sowjetische Volkskommissar (Ministerpräsident) Wjatscheslaw Molotow die Finnen zu vertraulichen Gesprächen nach Moskau ein. Die Finnen schickten Juko Kusti Paasikivi als Delegationsleiter nach Moskau. Dieser hatte mit den Sowjets bereits 1920 verhandelt. Gleichzeitig demonstrierten sie ihre Wehrbereitschaft: Reservisten wurden zu Übungen aufgeboten; die Russen sollten gewarnt werden.

An den Verhandlungen in Moskau nahm auch Stalin teil, obwohl er de iure nicht der Regierung angehörte. Stalin kam auch gleich zum Thema: Die Sicherheit Leningrads, nur 3 2 Kilometer von der finnischen Grenze entfernt, verlange territoriale Veränderungen. Es ging aber nicht nur darum. Stalin verlangte die Verpachtung der Halbinsel Hangö westlich von Helsinki für einen sowjetischen Flottenstützpunkt, die Abtretung mehrerer Inseln im Finnischen Meerbusen, Grenzveränderungen bei Petschen-ga am Eismeer und anderswo.

Die Verhandlungen zogen sich in die Länge. Einige kleine Grenzkorrekturen, die die Finnen anboten, wurden von den Sowjets zurückgewiesen. Molotow grimmig: „Wollen Sie einen Konflikt heraufbeschwören?“ Helsinki wollte keinen Handel mit der Sowjetunion. Man nahm an, daß Stalin nur bluffe und mitten im europäischen Krieg - noch dazu im Winter - es nicht wagen werde, Finnland zu überfallen. Man hatte sich bitter getäuscht. Molotow warnte noch: „Wir Zivilisten scheinen keine Fortschritte zu machen, jetzt geht das Wort an die Soldaten.“

Am 26. November, einem Sonntag, wurde Finnlands Gesandter in

Moskau zu Molotow beordert Ihm wurde mitgeteilt, daß am Nachmittag vier Rotarmisten durch finnisches Artilleriefeuer getötet worden seien. Die finnischen Truppen müßten sich sofort 25 Kilometer von der Grenze zurückziehen. Da dies am folgenden Tag nicht vollzogen wurde, kündigte die Sowjetunion den Nichtangriffspakt von 1932. Und am 30. November eröffnete die Rote Armee die Feindseligkeiten entlang der gesamten finnisch-sowjetischen Grenze, wobei gleichzeitig Helsinki und andere finnische Städte bombardiert wurden.

Stalin bot für diese Operation vier Armeen mit insgesamt 450.000 Mann, 1.900 Geschützen, 900 Panzern und 800 Flugzeugen auf. Die Finnen konnten kurzfristig 200.000 Soldaten mobilisieren, sie besaßen aber lediglich 75 Kampfflugzeuge, 60 Panzer, kaum Artillerie und knapp 100 Flak.

Stalin irrte sich, als er meinte, das finnische Proletariat werde sich „wie ein Mann“ erheben und Finnlands Regierung von innen schwächen. Die ganze Nation stand nun nämlich hinter der von Rysto Ryti angeführten Regierung. Dann folgte Stalins zweiter Irrtum.

Im ersten „befreiten“ Dorf, in Terijoki (Kirchdorf, unweit von Leningrad) schuf Stalin eine „Finnische Demokratische Regierung“, angeführt von dem im sowjetischen Exil lebenden Komintern-Sekretär Otto Ville Kuusinen. Dieser „Regierung“ wurde die Bitte nach

„militärischer Unterstützung“ rückwirkend erfüllt - ungefähr so, wie dies die Sowjets später in Budapest (1956), Prag (1968) oder in Afghanistan (1979) gemacht haben. Kuusinen beeilte sich, in Moskau sofort einen Vertrag mit Molotow zu unterschreiben, in dem er alle sowjetischen Wünsche restlos zu erfüllen versprach. Zum Austausch der Ratifikationsurkunden des Vertrags vom 2. Dezember 1939 „in kürzester Zeit in Helsinki“ sollte es jedoch nicht kommen.

Die finnischen Truppen nahmen, kaum daß sie den Anfangsschock überwunden hatten, den Kampf überall mit grimmiger Entschlossenheit auf. Die anrollenden Panzer wurden mit einer neuen „Waffe“ bekämpft, mit der Benzinflasche: der „Molotow-Cocktail“ war erfunden!

In den ersten Dezembertagen festigte sich die Front der Finnen an der Karelischen Halbinsel an der sogenannten „Mannerheim-Linie“, die eigentlich nur aus einigen zerstreuten Bunkern bestand, die in der damaligen Weltpresse aber ebenso berühmt wurde, wie die Maginot-Linie. Die Offensive der Roten Armee blieb liegen, denn auch der Wintereinbruch beeinträchtigte die Handlungsfähigkeit der Angreifer. Die Temperaturen sanken auf minus 40 Grad. Die Sowjets waren schlecht ausgerüstet, Panzer und Fahrzeuge froren ein. Finnische Ski-Bataillone rieben binnen drei Wochen mit ihrer „Motti-Taktik“ (Einkesselung in den Wäldern Kareliens) mehrere sowjetische Divisionen auf.

Die Welt nahm in dieser Zeit, da die Finnen auf Leben und Tod für ihre Unabhängigkeit kämpften, einen Zuschauerplatz ein. Der Völkerbund in Genf hatte zwar die Sowjetunion als Aggressor im Dezember 1939 verurteilt und aus der Völkergemeinschaft ausgeschlossen, praktische Maßnahmen konnte er gegen Moskau nicht ergreifen.

Ende Dezember 1939 waren die Angreifer erschöpft. An allen Frontabschnitten wurden die Kampfhandlungen sowjetischerseits eingestellt. Stalin ließ den Truppen aber Verstärkung in großer Zahl zukommen. Auch das Oberkommando wurde gewechselt. Mit mehr als 25 Divisionen wurde die Offensive am 11. Februar 1940 wieder aufgenommen. Die „Mannerheim-Linie“ wurde durchbrochen, General Mannerheim, der Oberbefehlshaber der finnischen Armee meldete der Regierung: Die Truppe ist am Ende ihrer Kraft. Der Krieg mußte jetzt mit politischen Mitteln beendet werden. Helsinki streckte Friedensfühler aus - zu einem günstigen Zeitpunkt. Denn auch die Sowjetregierung zeigte Friedensbereitschaft. Jetzt wurde Kuusinens „Volksregierung“ einfach vergessen, lautlos fallengelassen und am 13.März 1940 mit der legalen finnischen Regierung Rytis Friede geschlossen.

Die Bedingungen dieses „Moskauer Friedens“ waren aber härter als die ursprünglichen Forderungen Stalins. Finnland mußte ganz Süd-Karelien bis zur sogenannten Grenze Peters des Großen abtreten, Hangö verpachten, die Inseln des östlichen Finnischen Meerbusens abtreten und auf einen Teil der Petschenga-Küste verzichten. Die Einwohner dieser Gegenden, etwa 400.000, elf Prozent der Gesamtbevölkerung, zogen in Trecks auf die finnische Seite der neuen Grenze. Ihre Wiederansiedlung war eine ungeheure Aufgabe.

Stalin ließ die bisherige Autonome Republik Sowjetkarelien (bis jetzt Bestandteil der Russischen Sowjetrepublik) mit den neugewonnenen finnischen Gebieten bereits am 31. März 1940 vereinigen und verlieh ihr die neue Bezeichnung Finnisch-Karelische Sowjetrepublik. Sie wurde damit zur 16. Sowjetrepublik in der Union. Erst 1956 unter Chruschtschow wurde diese Republik - eine Herausforderung der Finnischen Republik -offiziell abgeschafft.

Die sowjetischen Verluste bezifferte Molotow offiziell mit 207.000 Mann, nach westlichen Schätzungen waren es sogar 273.000. Der „Konflikt“ mit Finnland war kein Ruhmesblatt in der Geschichte der Roten Armee. „Glasnost“ hat bisher nur wenig zur Aufklärung der Hintergründe beigetragen. Immerhin wurde neuerdings von sowjetischer Seite zugegeben, daß es die UdSSR gewesen sei, die den Krieg provoziert habe. Generaloberst D. Wolkogonow äußerte im Februar 1989 die Überzeugung, daß die raschen politischen Erfolge in Ost-Polen und im Baltikum Stalin blind gemacht hätten. Der Diktator habe geglaubt, auch in Finnland durch ein Ultimatum rasch zum Ziel zu gelangen. Deshalb - so Wolkogonow - hätten die Finnen völlig richtig gehandelt, als sie energischen Widerstand geleistet und damit den anderen Völkern ein Beispiel gegeben hätten, wie man für die staatliche Unabhängigkeit kämpft.

Der „Geist des Winterkrieges“ war für Finnlands Souveränität und seinen Fortbestand in jeder Hinsicht maßgebend. Die ursprüngliche Zerstrittenheit der Sprachgruppen und der gesellschaftlichen Klassen war in diesem Winter kaum spürbar. Armee und Volk waren also einig, und ihr Zusammenspiel rettete - gepaart mit realistischem politischen Denken - Finnlands Unabhängigkeit.

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