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Der Gendarm Brasilien

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Die überraschende Annäherung der konservativen argentinischen Militärdiktatur an das linkssozialistische Regime in Chile und die neue machtpolitische Aktivität Brasiliens kennzeichnen den komplizierten Stellungswechsel auf dem Halbkontinent. Die OAS („Organisation amerikanischer Staaten“) hat in ihrer Rolle als multilaterale Führungskraft versagt Zum ersten Male in. ihrer Geschichte haben mehrere Staaten, unter ihnen die beiden größten Lateinamerikas, die Konferenz in Washington verlassen.

Hinzu kommt, daß die Vereinigten Staaten wegen des Vietnamkrieges, der Dollarkrise und der inneren Schwierigkeiten ihre ausländischen Verpflichtungen abzubauen bemüht sind. In das dadurch entstandene Hegemonie-Vakuum sucht Brasilien — gestützt auf sein „Wirtschaftswunder“ — nunmehr mit bilateralen Kontakten einzudringen. So haben die Außenminister von Peru, Paraguay, Venezuela, Kolumbien und Ekuador Brasilia bereits besucht; der argentinische Außenminister Jose Maria de Pablo Pardo wird erwartet und eine mittelamerikanische Rundreise des brasilianischen Außenministers angekündigt. In allen Fällen wurde — abgesehen von einem verstärkten Handelsaustausch — von Brasilien technische und finanzielle Hilfe zugesagt, während die Erörterung der machtpolitischen Konstellation in den Kommuniques natürlich nicht zum Ausdruck kommt. Bei ihr fragt man sich besonders, ob

Brasilien bereit ist, auch die Rolle der Interventionsmacht zu übernehmen, die von den Vereinigten Staaten mit starkem Mißgeschick zuletzt in Kuba und in der Dominikanischen Republik gespielt wurde. Diese Frage wird vor allem bei der Entwicklung in Uruguay aktuell. Es ist durchgesickert, daß die brasilianische Regierung ihre Besorgnis wegen feines etwaigen Erfolges der „Tupa- maros“, aber auch eines Sieges des Sammelbeckens der Linksgruppen, der sogenannten „Breiten Front“ bei den Novemberwahlen zum Ausdruck gebracht hat. Da Uruguay der Pufferstaat zwischen Brasilien und Argentinien ist, wäre eine Intervention freilich nur bei einem Einvernehmen dieser beiden Staaten denkbar.

Angesichts der „castroistischen Gefahr“ hatten 1967 die beiden damaligen Oberbefehlshaber und späteren Präsidenten beider Länder, Juan Carlos Ongania und Arthur Costa e Silva über eine gemeinsame Verteidigung ihrer „ideologischen Grenzen gegen den Kommunismus" verhandelt. Jetzt hat die argentinische Regierung einen überraschenden Richtungswechsel vollzogen. Um das Gleichgewicht unter Vermeidung einer brasilianischen Vorherrschaft auszubalancieren, ist der argentinische Außenminister nach Chile gefahren. Er hat Allendes Zustimmung zu der argentinischen Position in bezug auf die mit Brasilien strittige Frage einer Ausnutzung der Wasserkräfte im La-Plata-Bek- ken erlangt. Ferner wurde eine Einigung über die lang diskutierte Kompetenz des englischen Königshauses erzielt, ein Schiedsgericht über die Grenzziehung in der Zone des Beagle- Kanals aus Mitgliedern des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag zu bilden. Der argentinische Präsident General Lanusse hat in einer Geste, die bei der augenblicklichen lateinamerikanischen Situation als sensationell bezeichnet werden muß, Allende für die feierlicha Unterzeichnung des Protokolls zu einem Staatsbesuch nach Buenos Aires eingeladen — ein Beweis dafür, daß hier die Besorgnis gegenüber der brasilianischen Hegemonie stärker ins Gewicht fällt als die Ablehnung des linkssozialistischen Regimes in Chile.

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