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Der Gipfelsturm des „Einfältigen“

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Aufstieg Chruschtschows und Sturz Berijas: In Moskau werden Details über die Machtkämpfe nach Stalins Tod vor 35 Jahren publiziert. Ein weiteres Glasnost-Indiz.

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Aufstieg Chruschtschows und Sturz Berijas: In Moskau werden Details über die Machtkämpfe nach Stalins Tod vor 35 Jahren publiziert. Ein weiteres Glasnost-Indiz.

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Uber Stalins Wirken, der vor 35 Jahren in seinem Haus in Kunze-wo verstarb, ist gegenwärtig eine ausführliche Biographie in Moskau in Vorbereitung, die auch die Schattenseiten des während eines Zeitraumes von fast 30 Jahren agierenden Alleinherrschers der Sowjetunion aufdecken soll.

Uber Stalins Ableben (FURCHE 8/1988) und über die unmittelbaren Machtkämpfe der „Erben“ wurden kürzlich Einzelheiten in Moskau bekannt. Stalin hatte in seinen letzten Monaten einen ausgesprochenen Verfolgungswahn. Noch im November 1952 ließ er seine Ärzte aus der Kreml-Klinik als „Spione ausländischer Mächte“ verhaften und foltern. Für sie sollte ein Prozeß vorbereitet werden.

Gleichzeitig arbeitete er auch an einem Schlag gegen seine bisherigen Mitarbeiter, so gegen Außenminister W. Molotow und Handelsminister A. Mikojan. Andere Führungskräfte mußten sich ebenfalls vor einer Verhaftung fürchten. Nicht so aber Nikita S. Chruschtschow, der schlaue Ukrainer, der im Kreise Stalins als ein harmloser, einfältiger Mann galt.

Auch andere Mitglieder der Partei- und Regierungsführung hatten Chruschtschow unterschätzt. Allerdings kam diese Einstufung in der Herrschaftshierarchie Chruschtschows Karriere zugute. Sein Leben wurde geschont, und Stalins plötzlicher Tod ließ ihn bald zum ersten Mann der Sowjetunion aufsteigen.

Als Stalin in seinem Landhaus am 5. März 1953 einsam starb, war kein Arzt in seiner Umgebung. Bei Beschwerden zog der Diktator einen Major des Sicherheitsdienstes zu Rate, der einmal ein paar Semester Veterinärmedizin studiert hatte. Nach Stalins Tod hatte der Chef der Wache sofort den Kreml alarmiert. In Windeseile kamen nun die Mitarbeiter des Verstorbenen nach Kunzewo. Sie vergewisserten sich, daß Stalin gestorben war und begaben sich dann — immer zwei in einem Auto — zurück nach Moskau.

Als erste fuhren Lawrentij Berija, der Chef des Staatssicherheitsdienstes, und Georgij Malenkow, der designierte Nachfolger Stalins. Ihnen folgten Molotow und Kaganowitsch. Der zurückgebliebene Mikojan sagte darauf zu Chruschtschow: „Berija beeilt sich deswegen so, nach Moskau zu kommen, um die Macht an sich zu reißen.“ Darauf antwortete Chruschtschow: „Bis dieses Schwein nicht entfernt ist, können wir uns nicht in Sicherheit wissen.“

In den nächsten Wochen begann Chruschtschow, innerhalb der Führung Berijas Absetzung zu betreiben. Malenkow, eigentlich ein Freund von Berija und nunmehr Ministerpräsident, wurde überredet, und dem schlauen Ukrainer gelang es auch, Marschall Kliment J. Woroschilow auf seine Seite zu ziehen. Auch andere verängstigte Mitglieder der Kremlführung ergriffen insgeheim für Chruschtschow Partei.

Im Juli 1953 schlug Chruschtschow dann zu. Kurzfristig wurde im Kreml eine Präsidiumssitzung einberufen. Alle Mitglieder kamen - auch Berija, der eine dicke Mappe mit sich schleppte und diese auf seinem Pult abstellte.

Laut vorheriger Absprache sollte nun Ministerpräsident Malenkow die Sitzung eröffnen. Er schwieg jedoch und wollte nicht beginnen. Anscheinend hatte er Angst vor Berija.

Daraufhin sprang Chruschtschow, von Wut gepackt, von seinem Stuhl und schrie: „Die Sitzung ist eröffnet. Auf der Tagesordnung steht nur ein Punkt: die parteifeindliche, spalterische Tätigkeit von Berija, diesem Agenten des Imperialismus. Ich beantrage seine sofortige Entfernung aus dem Präsidium, aus dem Zentralkomitee und aus unserer Partei. Er gehört vor ein Militärgericht! Wer ist für den Antrag?“

Alle Anwesenden — außer Berija natürlich — stimmten zu. Berija wurde bleich und griff nach seiner

Aktenmappe. Aber bevor er sie öffnen konnte, hatte Chruschtschow auf einen Knopf gedrückt, und schon standen zwei Offiziere der Roten Armee hinter dem Sicherheitschef, die ihn überwältigten und sofort abführten.

Der Innenminister der UdSSR, Chef des Staatssicherheitsdienstes seit 1938 und übrigens auch Marschall der Sowjetunion, Beri-ja, kam ins Stabsgebäude der Moskauer Garnison. Dort wurde ihm vorgeworfen, 1919 (!) Agent des „britischen Imperialismus“ gewesen zu sein und den Briten bei deren Machenschaften im Kaukasus gedient zu haben. Noch im Juli 1953 wurde Berija zum Tode verurteilt und als entlarvter „imperialistischer Agent“ erschossen.

Chruschtschow konnte mit Be-rijas Liquidierung seinen ersten Sieg über seine Parteigegner verbuchen. Der Aufstieg zur Spitze, sollte ihm in den folgenden Jahren gelingen.

Die zur Zeit in Moskau praktizierte publizistische Welle der Vergangenheitsbewältigung wird sicherlich dazu beitragen, daß die jüngste Sowjetgeschichte neu geschrieben werden muß.

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