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Der Glaube als Randerscheinung in Europa

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Polen gilt als Land, in dem der Glaube eine bedeutende Rolle spielt: Einer kürzlich im Auftrag der Zeitschrift „30 Tage" (6/1991) durchgeführten Erhebung zufolge bezeichneten sich 59 Prozent der Befragten als praktizierende Katholiken und 52 Prozent gaben an, wöchentlich in die Messe zu gehen. Nur ganze zwölf Prozent betreten nie eine Kirche.

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Polen gilt als Land, in dem der Glaube eine bedeutende Rolle spielt: Einer kürzlich im Auftrag der Zeitschrift „30 Tage" (6/1991) durchgeführten Erhebung zufolge bezeichneten sich 59 Prozent der Befragten als praktizierende Katholiken und 52 Prozent gaben an, wöchentlich in die Messe zu gehen. Nur ganze zwölf Prozent betreten nie eine Kirche.

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Das sind für westeuropäische Verhältnisse beachtliche Zahlen. Bohrt man aber etwas tiefer, so wird deutlich, daß sich in mancher Hinsicht, die Einstellung der polnischen Christen nicht von der westlicher Katholiken unterscheidet. Der Glaube prägt nicht unbedingt die Gestaltung des Alltagslebens. Typisch dafür sind die Antworten der Polen auf die Frage, wie sie zur künstlichen Empfängnisverhütung stehen: 62 Prozent befürworten sie, nur 15 Prozent lehnen sie ab. Auch gegen die Abtreibung sprechen sich nur 26 Prozent der Befragten aus.

Auf die Frage, was im persönlichen Leben am meisten zähle, reihen auch die Polen Religion nicht ganz weit vorne. Nur bei 23 Prozent ist sie eines der drei wichtigsten Anliegen, während 53 Prozent behaupten, moralische Werte hochzuhalten.

Hier scheint mir deutlich zu werden, daß Moral und Religion nicht als Einheit erlebt werden, sondern daß sich beide auseinanderentwickelt haben. Man erkennt es auch an der Antwort auf die Frage, ob die katholische Sexualmoral bekannt sei: 80 Prozent ja. Aber richtet man sich auch nach ihr? 47 Prozent nein und (immerhin) 42 Prozent ja - bei den jungen allerdings nur 29 Prozent.

Damit zeigen diese polnischen Umfragen dasselbe Phänomen, das man auch in Westeuropa feststellt. Wichtige Aspekte der kirchlichen Lehre verlieren in weiten Kreisen der Bevölkerung an Kraft, das Alltagsleben zu gestalten.

Ähnlich die Situation in Deutschland, wie eine Erhebung im Auftrag der deutschen Bischofskonferenz ergab: 54 Prozent der Befragten lehnen die Lehre zur Empfängnisregelung ab (bei den unter 30jährigen sind es 69 Prozent). Gar nur neun Prozent meinen, keine sexuellen Beziehungen vor der Ehe zu haben, sei Bestandteil des Christseins heute. 69 Prozent sind davon überzeugt, daß Enthaltsamkeit vorder Ehe nichts mit einem christlichen Leben zu tun habe. Beachtlich auch, daß 70 Prozent der Katholiken feststellen, sie würden sich gegebenenfalls über Weisungen aus

Rom hinwegsetzen.

Für die Bewertung dieser Umfrage ist der Hinweis wichtig, daß nur 20 Prozent der Befragten sich als praktizierende Katholiken bezeichneten. Schwerer wiegen da die Ergebnisse einer Umfrage in Frankreich, die von „Le Figaro" durchgeführt worden ist. Sie bringt den Unwillen vieler Katholiken, die sich als praktizierend bezeichnen, über kirchliche Äußerungen zum Thema Moral zum Ausdruck.

60 Prozent dieser Gruppe meinen, die Kirche müsse den Menschen zwar den Sinn der Liebe und des ehelichen Zusammenlebens verdeutlichen. Sie habe aber keine genaueren Anweisungen zu geben.

Hier geht es um mehr als nur um Richtungskämpfe zum Thema Sexualität. Wenn 57 Prozent der praktizierenden Katholiken überhaupt die offiziellen Lehräußerungen der. Kirche ablehnen, nur 49 gegen die Abtreibung sind und 38 Prozent diese sogar akzeptieren, dann weist dies auf eine tiefe Krise im Glaubensverständnis hin.

Ein Glaube, der den gesellschaftlichen Gegebenheiten angepaßt ist, scheint sich breitzumachen - nunmehr auch in den Kemgruppen der Kirche. Christen stehen ja auch tatsächlich in einer Zerreißprobe. Die vom technisch-wirtschaftlichen Fortschritt geprägte Entwicklung, drängt den Glauben in die Privatsphäre und prägt ein Menschenbild, das auf Konsum, kurzfristige Befriedigung verschiedenster Bedürfnisse ausgerichtet ist.

Religion - nebensächlich

Dementsprechend stellt sich die Wertelandschaft heute dar: Wer einen Blick auf die Religionslandkarte der Welt wirft, wird Europa zwar als christliche Region verzeichnet finden. Aber tatsächlich prägt die Botschaft Christi die Wertvorstellungen der Zeitgenossen kaum.

„Was ist für ihr Leben wichtig?", wurden 1982 die Engländer gefragt. Das Ergebnis: Religion landete unter 23 Möglichkeiten an 22. Stelle hinter Hobbies, Aussehen oder Urlaub. Spitzenreiter: Gesundheit (99 Prozent), Familie (96 Prozent), „Law and Order" (95 Prozent)... Und die Deutschen reihten die Kirche - bezüglich Bedeutung für ihr persönliches Leben -an 17. Stelle unter 22 Begriffen (hinter Freizeit oder Wohngegend). In Österreich, Frankreich und Italien landete Religion unter sieben Möglichkeiten bei einer ähnlichen Befragung auf Rang sechs.

Die Umkehrung der Wertehierarchie zeichnet sich ab. Eine in Westeuropa (1981) durchgeführte Befragung ergab etwa, daß den Menschen heute Hehlerei, Entwendung eines Autos,

Bestechung oder Versicherungsbetrug als weitaus schwerere Vergehen erscheinen als Scheidung, Prostitution, Euthanasie oder Abtreibung.

Dies ist eine dramatische Verschiebung, die selbstverständlich Anlaß zur Sorge gibt. Klar ist auch, daß die Kirche gegen diese Entwicklung Stellung bezieht. Das muß sie auch.

Aber offensichtlich wird sie immer weniger verstanden - auch in den eigenen Reihen. Immer mehr gerät die Kirche in die Rolle des ewig gestrigen Miesmachers, der sich gegen den Fortschritt stellt. Daß dieser immer mehr menschl iche Opfer, Scheidungs-waisen, Alkoholiker, Depressive, Medikamenten- und Drogensüchtige, einsame Alte, und, und... produziert, wird übersehen. Der Hinweis darauf überzeugt offensichtlich nicht im erwarteten Maß. Auch die Umweltzerstörung hält unsere Gesellschaft ja nicht vom Wachstumskurs ab.

Nicht verschärfter Grabenkampf sondern Neuevangelisierung ist die richtige Antwort: Den vielen ratlosen und verzagten Menschen sollten die Christen erfahrbar machen, daß die Botschaft Christi nicht primär auf artiges Wohlverhalten gerichtet ist, sondern auf die Wiederherstellung der liebe- und vertrauensvollen Beziehung zu Gott im eigenen Leben. Laß dich mit Jesus Christus ein! Das ist der wichtigste Appell. Wo er aufgenommen wird, kann in der Folge auch die Lehre der Kirche Fuß fassen.

Glaubhaft verkündet wird diese „gute Nachricht" durch das Leben jener, die sich Jesus anvertraut haben. Und an der Art, wie diese Menschen leben, wird man erkennen, daß die Lehre der Kirche nicht stures Festhal* ten an Traditionen ist, sondern daß sie klarstellt, was fürden Menschen wirklich heilsam ist. Dann werden auch moralische Forderungen einsichtig.

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