6819299-1973_25_24.jpg
Digital In Arbeit

Der Grillparzergeist aus der Flasche

Werbung
Werbung
Werbung

Der „Grillparzergeist“ ist giftgelb, hat ein zartbitteres Aroma und bereitet mir leichte Kopfschmerzen. Ich prüfe seine Wirkung an Ort und Stelle: Ist es Anis, was ich herausschmecke? Ein Kräuterlikör demnach

— für alte Damen? Gut, daß ich nur die Probegröße genommen habe, um fünf Schilling. Es gibt auch eine aufwendigere, die Vorratsflasche, beide

— wie das auf Neogotisch getrimmte Etikett ausdrücklich hervorhebt — „auf Grund langjähriger Erfahrung hergestellt“.

Welche Art von Erfahrung das wohl sein mag? Erfahrung mit Dichtern? Oder vielleicht doch nur Erfahrung mit .Destillaten? Spirit und Spirituosen — wie nah sind sie beieinander. Und doch wie fern: Der Grillparzergeist macht keinen klaren Kopf, nichts regt sich in mir, nicht das kümmerlichste Zitat.

Gleichwohl: Der Artikel geht gut. Die Pförtnerin des Ahnfrauschlös-sels hatte, als sie uns einließ, vor der Halle mit der Sankt-Florian-Nische eine große Einkaufstasche bereitgestellt, bis zum Rand mit dem wunderlichen Elixier gefüllt, und nun, da die letzten Besucher gehen, ist die Tasche leer.

Im Hinausgehen werfe ich, aus dem Gesehenen die Summe ziehend, noch einen letzten Blick auf die marmorne Tafel über dem Eingang:

Kaum drei Jahre war der Knabe, als er, in dem Garten spielend, von der Wärtrin sich verlief. Offen stand die Gartentüre, die zum nahen Weiher führt.

(Ahnfrau, I)

Und darunter:

Zur Erinnerung an Franz Grill-parzer, dessen Kindheit bedeutsam mit diesem Baus verknüpft war.

Mit diesem? Nicht vielleicht doch mit seinem Vorgänger? Damals, an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, als der kleine Franz, „in den ersten Jahren seit dem Erwachen seines Bewußtseins“, die Sommer-

monate im elterlichen Landhaus zu „Enzersdorf am Gebirge“ verbrachte und jene Geistererscheinung hatte, die später — nach den Vorstellungen der örtlichen Überlieferung — das Erstlingswerk des Dichters inspirierte, war von Tudorgotik weit und breit noch keine Rede. Noch beherrschte das Biedermeier die Szene. Anders gesagt: Grillparzer war bereits ein Mann in den besten Jahren und die vierfüßigen Trochäen seiner „Dolchstoßlegende“ längst Literaturgeschichte, nicht nur in Pla-tens „Verhängnisvoller Gabel“ unbarmherzig parodiert, als ein von Ritterromantik gespeister Historis-

mus diese aufwendige Absurdität aus Spitzbogen und Zinnen, aus Solitüde und Söller hervorbrachte. Kein Grillparzer kann hier als Kind logiert, kein Grillparzer kann hier, wie dem Besucher sanft suggeriert wird, von eigener Hand Verse ins Fensterglas eingraviert, kein Grillparzer kann hier, wozu sich die ganz kühnen Spekulanten versteigen, seine „Ahnfrau“ zu Papier gebracht haben: „Sonst weiß ich von Enzersdorf nur noch, daß ich daselbst durch einen alten Schulmeister die Anfangsgründe der Buchstabenkunde, wohl auch des Buchstabierens, empfing.“ Als der Dichter „in nicht mehr als 15 oder 16 Tagen“ sein „Trauerspiel in fünf Aufzügen“ hinwarf, war das Wienerwald-Retiro -längst von einem Garten in Hernais abgelöst, und das Jahr über wohnte die Familie — nun, nach des Vaters Tod, auf kargere Verhältnisse gesetzt — im sogenannten „Elend“: Tiefer Graben Nr. 32, dort, wo sich heute das „Hotel Orient“ breitmacht.

Durch die öden Gänge wimmert's, und im Grabgewölbe drunten poltert's mit den morschen Särgen, daß das Hirn im Kreise treibt und das Haar empor sich sträubt.

Eher wäre also jenem Zweig der Literaturtopographie recht zu geben, der eine „umgekehrte Abfolge der Anregungen“ vermutet: zuerst die „Ahnfrau“, dann das „Ahnfrau-Schloß“. Und in der Tat: Wer sich den enormen Widerhall vergegenwärtigt, den Grillparzers Theaterdarstellung zu seiner Zeit und noch das ganze 19. Jahrhundert hindurch fand, nur Schillers „Räuber“ vergleichbar, der wird sich wohl vorstellen können, daß die Szenerie dieses Erfolgswerks das nach des Dichters eigenem Urteil „in Wien und in ganz Deutschland die ungeheuerste Wirkung machte“ (von dessen Erstaufführung eine, die dabeigewesen, die Freifrau Emilie Binzer, atemlos zu Protokoll gab, „in dieser Nacht“

habe es „keinen ruhigen Schlaf“ gegeben; und zu dem das Publikum sich drängte, als „gelte es, eine Belagerung und Erstürmung“), daß die Szenerie eines solchen Erfolgswerks „Fans“, die sowohl über die nötige schwärmerische Begeisterung wie über das nötige Kapital verfügten, zu einer Imitationsarchitektur inspirierte, die sowieso in der Zeit lag. Bühnenbild für den Hausgebrauch. Im Werther-Fieber, gut 30 Jahre davor, begnügte man sich noch mit dem Frack — jetzt, im Ahnfrau-Wahn, stülpte man sich bereits ein ganzes Schloß übers Haupt. Noch wetterte ja kein Adolf Loos gegen das Par-

venuhafte solcher Exzesse, noch war Ornament kein Verbrechen, nichts „Potemkinsches“, nichts „Unmoralisches“.

Heute, im Sog der Ludwig-II.-Welle, denkt man über derlei Nostalgiearchitektur abermals anders. Auch wer sich nicht genug tun kann, sich über die Ritterschloßmode des ritterlosen Jahrhunderts unserer Urgroßväter zu mokieren, huldigt ihr als Kuriosum.

Daß ich dieses Haus betreten! Engel sah ich an der Schwelle, und die Hölle hauset drin! Der Literaturtopograph, meine ich,

sollte ja überhaupt nicht der Typ des strengen Landvermessers sein, der um jeden Millimeter feilscht. Sind einmal die historischen Fakten bloßgelegt — und das heißt in diesem Fall klipp und klar: Im „Grillparzer-Schlößl“ zu Maria-Enzersdorf wurde die „Ahnfrau“ weder angeregt noch angesiedelt, noch geschrieben —, was spricht dann noch dagegen, sich ein wenig auf romantisches Phantasieren einzulassen? Man sollte da nicht zu schulmeisterlich sein; dem Wissenschaftler kann aus lokaler Legendenbildung ohnehin kein Schaden erwachsen.. Er beschreitet andere Wege, bedient sich anderer Mittel. Er weiß sowieso, daß die „Ahnfrau“-Schauplätze wenig individuelle Züge tragen, gerade nur soviel, um der einfachen Dramaturgie des Stückes zu genügen; er weiß, daß Grillparzer mehr einen abstrakten Topos vor Augen hatte, den er übrigens mit der Gebrauchsliteratur seiner Zeit teilte: das gotische Schloß der Schicksalsromantik; er weiß selbstverständlich, daß das englische Wort für „Schauergeschichte“ nicht von ungefähr „Gothic Tale“ heißt; und er weiß schließlich auch von jener Stelle in den Tagebüchern, wo der Autor der „Ahnfrau“ es ganz klar ausspricht:

„Wenn der Held eines Romans nach mannigfaltigen Schicksalen wieder in das Haus zurückkommt, in dem er seine Jugend verlebt hat, so stelle ich mir dasselbe immer gotisch und finster vor, gesetzt auch, es wäre als ganz anders geschildert worden.“

Gewiß mag in die „gotische Vorhalle, im Hintergrund zwei Türme“, in die „Gegend vor dem Schlosse, von allen Seiten halbverfallene Werke“ und in das „Grabgewölbe mit passenden Sinnbildern“ das eine und andere Realitätspartikel aus dem Erfahrungs- und Erinnerungsgut des jungen Dichters miteingeflossen sein: Lukow etwa, jenes „Jagdschloß im waldigsten Teile des Hradischer Kreises“ nahe der mährisch-ungarischen Grenze, wo der 21jährige, unbesoldete Hofbibliothekspraktikant dem Neffen eines Grafen Seilern Hausunterricht erteilt hatte, oder auch jenes schauerlich finstere „Holzgewölbe“, des elterlichen Wohnhauses am Wiener Bauernmarkt, das dem kleinen Franz, so oft er es betrat, Angst und Grauen bereitet und das er sich nicht anders als „mit Räubern, Zigeunern oder wohl gar Geistern bevölkert“ hatte vorstellen können (die aber

dann doch nur, schlimm genug, Ratten gewesen waren).

Auch Phantasiebilder mögen das Ihre beigetragen haben: das Castle of Otranto des Gruselromantikers Horace Walpole, dessen Bücher sich in der väterlichen Bibliothek befanden, die Schauplätze der Genoveva-Sage in der Darstellung des Paters Martin von Kochern, vor allen Dingen aber des französischen Brigan-tenromans „Louis Mandrin, Räuber, Contrebandier und Goldmünzer“ und des englischen Schauerepos „Die blutende Gestalt mit Dolch und Lampe, oder: Die Beschwörung im Schlosse Stern bei Prag“, zweier

ranziger Schundwerke „unter der Literaturgrenze“, die dem jungen Grillparzer, wie er später schamvoll eingestehen wird, den Stoff für seine „Ahnfrau“ geliefert haben. Wer könnte all das entflechten — und gar, wollte man etwa auch noch das Szenario der Ammenmärchen in Rechnung stellen, die dem Knaben Franz, für Gespensterfurcht Zeit seines Lebens außerordentlich anfällig, eingeflößt worden waren, das Szenario der Gruseldramen, die — wie man weiß — im Hause der Großmutter aufgeführt wurden, und schließlich das Szenario der gängigen Ritterstücke, die der Heranwachsende in den Wiener Volkstheatern zu sehen Gelegenheit gehabt hatte? Hier, in diesen wüsten Mauern, will ich tief verborgen lauern.

Die Literaturhistoriker haben, auf der Suche nach Vorbildern der Ahnfrau, nach Anregungen und Einflüssen, Beträchtliches an Funden aufgetürmt — es dürfte leicht ausreichen, die „schreckensvolle Warnerin“ auch über unsere Tage hinaus (die ihrem Bühnendasein so wenig geneigt scheinen) ihre düsteren Kreise ziehen zu lassen: „Und wenn Unheil droht dem Hause, steigt sie aus der dunklen Klause.“

Angesichts von soviel wissenschaftlich-professioneller Exegese wird man wohl Nachsicht üben dürfen, wenn auch die Heimatkunde einen Happen davon begehrt und auf jene Stelle in Grillparzers Kindheitserinnerungen pocht, an der davon berichtet wird, „daß mein Vater gemeinschaftlich mit seiner Schwiegermutter und einem seiner Schwäger ein großes Haus in Enzersdorf am Gebirge kaufte, das Raum genug bot, um drei Familien ganz abgesondert voneinander zu beherbergen.“ Dort heißt es nämlich weiter:

„Das Beste daran war ein weitläufiger Garten, in dem mein Vater, wenn er von Samstag abend bis Montag morgen hinauskam, seiner Gärtnerlust nachhing. Für uns Kinder wurde der Genuß dieses Gartens durch einen — wie uns damals vorkam — sehr großen Teich gestört, der sich an einem Ende desselben befand und der, obwohl man ihn mit einer schwachen Barriere eingefaßt hatte, doch eine immerwährende Gefahr des Hineinfallens darbot. Da war denn der Gebote und Verbote kein Ende, und an ein Herumlaufen ohne Aufsicht war gar nicht zu denken. Besonders hatte der der Gartenmauer zugekehrte hintere Rand des Teiches, der nie betreten wurde,

für mich etwas höchst Mysteriöses, und ohne etwas Bestimmtes dabei zu denken, verlegte ich unter die breiten Lattigblätter und dichten Gesträuche alle die Schauder und Geheimnisse, mit denen in unserer Stadtwohnung das .Holzgewölbe' bevölkert war. Wir wurden gar nicht mit Gespenstern bedroht oder geschreckt. Dem ungeachtet, als ich und mein zweiter Bruder einmal in dem gemeinschaftlichen Saale unterm Billard ganz allein spielten, schrien wir beide zu gleicher Zeit auf. Als man herbeilief, erzählten wir, wir hätten einen Geist gesehen. Auf die Frage, wie er ausgesehen, sagte ich: Wie eine schwarze Frau mit einem großen Schleier.“

Klar: Damit läßt sich etwas anfangen. Um so unbegreiflicher, daß das „echte“ Grillparzerhaus in Maria-Enzersdorf, der ehemalige Schottenhof, ein im Kern spätgotischer Bau

mit stilvollem Innenhof, nicht erhalten geblieben, sondern vor etlichen Jahren — allem Denkmalschutz zum Hohn — niedergerissen und durch einen gesichtslosen Neubau ersetzt worden ist. Nur in einigen wenigen Rudimenten — einer schönen alten Holzdiele, einem gotischen Steingewände und den historischen Türbeschlägen — lebt es, auf der „drü-beren“ Straßenseite, fort: in jenem wundervollen Renaissancehaus bei der alten Wallfahrtskirche „Maria — Heil der Kranken“, wo hinter Sgraffitomauern und Holzschindeln der verehrungswürdige Carlos von Rief el seine Blütenzweige malt. Arglos und vertrauensvoll folgt' ich meinem Führer nach in das weite Prunkgemach.

Was sich heute, etwas anmaßend, das „Grillparzer-Schlößl“ nennt, jenes turmartige Gartenhäuschen in dem von Weinreben durchsetzten Areal zwischen der Riemerschmid-gasse und der Grillparzerstraße, nur einen guten Steinwurf vom Gleiskörper der Südbahn entfernt, mag allenfalls auf jenem Grund stehen, auf dem man sich um 1800 den bewußten (später zugeschütteten) Teich vorzustellen hat. Der Fremdenführer, der es im strahlenden Sonnenschein dieses Frühlingssonntagnachmittags nicht ganz leicht hat, Ahnfraustimmung heraufzubeschwören, weiß bei allen seinen Spekulationen Maß zu halten. „Hier soll angeblich ...“, „Wie die Legende behauptet ...“, „Beweise gibt's dafür allerdings keine...“ — so sichert er sich ab, wenn er sein oft erprobtes Grillparzer-Programm abschnurrt. Doch alle seine Vorbehalte nützen ihm wenig: Sein Publikum, gottergeben, fühlt sich vom Grufthauch der Ahnfrau umweht, eine alte Dame aus unserer Gruppe meldet leichtes Gruseln; die Anekdote vom früheren Hausherrn, der ein passionierter Laienastronom gewesen sei und im heute funktionslos gewordenen Turm ein kleines Observatorium unterhalten habe, fügt dem irdischen Nervenkitzel gleich auch noch einen Schuß kosmisches Erschauern hinzu, und für Skeptiker, falls es sie an diesem Punkt der Führung noch geben sollte, steht, an Ort und Stelle gebraut und abgefüllt, in Flaschen zu fünf und zu dreißig Schilling, der schon erwähnte „Grillparzergeist“ bereit. Wem auch dann noch nicht die Ahnfrau erscheint, dem ist nicht zu helfen. Der ist für die klassische Literatur verloren.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung