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Der große Akt

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Der Erzähler und Essayist Hans Flesch-Brunningen feiert in diesen Tagen seinen 85. Geburtstag. Sein Werk ist gesicherter Bestand der österreichischen Literaturgeschichte.

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Der Erzähler und Essayist Hans Flesch-Brunningen feiert in diesen Tagen seinen 85. Geburtstag. Sein Werk ist gesicherter Bestand der österreichischen Literaturgeschichte.

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Jahrelang waren die beiden mit ihrem Akt durch die Welt gereist. Es war ein sehr komplizierter Akt, eine Mischung aus Radfahrakt und echtem Seilakt, aber es war noch nie etwas schiefgegangen. Die Vorgänge hoch oben in den Lüften wären tatsächlich so verwickelt, man möchte beinahe sagen: unklar, daß sich in manchen Städten das Publikum kaum zurechtfand, bevor die Schlußpointe gesetzt wurde. Dann, wenn der berühmte Trommelwirbel erscholl, griffen die ängstlicheren Frauen nach den Händen ihrer Begleiter, hielten den Atem an und atmeten erst auf, wenn die beiden Artisten wohlbehalten unten standen und sich verbeugten.

Sie waren noch verhältnismäßig junge Leute und stammten aus verschwägerten Artistenfamilien, die' einen guten europäischen Ruf genossen. Geschwister waren sie, wie es von der Reklame behauptet wurde, natürlich nicht. Sie nannten sich Nilla und Nillo und waren, soweit sie dazu Zeit hatten, Liebesleute, auch schon seit Jahren.

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i m den Akt in seiner gegenwärtigen verzwickten Form zustande zu bringen, waren nicht nur die Gelenkigkeit, Aufopferungsfähigkeit und das körperliche Genie der beiden Beteiligten nötig gewesen, sondern auch die Erfindungsgabe von Ingenieuren, der Einfallsreichtum eines alten Zirkusdirektors in Oslo und die mechanische Fixigkeit einer deutschen Radfirma. Das Seil, auf dem die beiden Räder liefen, war besonders behandelt und mit winzigen Stählleisfen versehe. Die Räder hatten eine spezielle Feder eingebaut, und die Drahtseile,, von denen sich die Akteure auf die mechanisch vorwärtsgetriebenen Räder hinabstürzten, waren auch von ungewohnter Beschaffenheit. Auf Netze wurde in jenen Ländern, wo diese nicht gesetzlich vorgeschrieben waren, ausdrücklich verzichtet, was den Anreiz auf das Publikum erhöhte und den Kasseneingang vermehrte. Es war ein weltberühmter Akt, auf ungefähr folgende Art:

Die beiden ersten Nummern waren noch nichts Außergewöhnliches, obwohl sich die beiden beim zweiten Auftritt mit ihren Rädern auf dem Horizontalseil bereits übersprangen, was für viele Städte durchaus eine Neuigkeit war. Die Sensation Nummer eins aber -Achtung! Achtung! Sie sehen Nilla und Nillo, die ersten Akrobaten der Welt! -, also.die kam erst bei der dritten Nummer, nämlich indem die Räder unbemannt und unbeweibt einander auf dem Seil entgegengestoßen wurden; indem die beiden inzwischen oben auf den baumelnden Vertikalseilen zueinander schwangen, dann gleichzeitig auf die gegeneinander sausenden Räder sprangen; indem sie sich mit den Rädern übersprangen - wie geschah das aber? -dann aber, am Ende angelangt - wobei sie, in entgegengesetzter Richtung fahrend, sich die Rücken zugekehrt hatten -, mit den Vorderrädern anscheinend unabsichtlich vom gespannten Seil rutschten, nur mit den

Hinterrädern hängenblieben und, nach hinten pedalierend, einander auf dem Seil wieder ganz nahe kamen, indem sie schließlich, von den plötzlich verlängerten Vertikalseilen im letzten Augenblick, gewissermaßen gerettet, in die Lüfte zurückkehrten, nur um nochmals auf die Räder hinabzustürzen, sich leicht um die Hüften zu umfangen, zu schweben und dann, die Räder auf den Köpfen balancierend, stufenweise auf den Boden zu gelangen.

Der Trommelwirbel setzte je nach Stadtsitte vor oder nach dem Rückschwung in die Lüfte ein. Es war eine kitzlige Sache, auf jeden Fall. Aber Nilla und Nillo kannten nichts als ihren Beruf, sparten, wollten vielleicht einmal heiraten, waren erstklassige Artisten. Herz, Lunge, Augen waren in tadellosem Zustand, sie riskierten vielleicht ihr Leben, waren sich dessen aber niemals bewußt, weder vor noch nach der Vorstellung.

Es geschah nach langen Jahren in einer südlichen Stadt, daß sich Nilla in einem Restaurant am Meeresstrand vorübergehend in einen jungen Mann vergaffte, der von nun an jedesmal in einer der ersten Reihen den Vorstellungen beiwohnte und so wütend applaudierte, daß es die beiden nach dem Akt sogar in dem unsäglichen Lärm und der unbeschreiblichen Menge hören und sehen mußten. An einem der folgenden Abende machte Nillo seiner Geliebten eine kleine erbitterte und etwas müde Eifersuchtsszene. Nilla kannte zwar gewisse Launen an ihrem Gefährten, die sich in den letzten Monaten sogar gemehrt hatten, hatte ihn aber noch niemals in einem so sonderbaren Zustand gesehen. Sie sagte nichts, ließ aber am nächsten Morgen den Arzt der Truppe kommen, von welchem sich Nillo trotz seinem Widerspruch untersuchen lassen mußte. „Ich verstehe gar nicht, was du willst", sagte er, tat aber doch, wie gewöhnlich, was Nilla wollte. Der Arzt zeigte sich völlig befriedigt, ja, auf die Suggestivfrage Nillas, ob da vielleicht nicht doch im Verlauf der Zeit die Nerven etwas schadhaft geworden seien, schüttelte er den Kopf.

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er Tag verging in einer gewissen Spannung, die beiden unbekannt war und die sie sich selbst nicht eingestanden. Das Mittagessen wurde in einem anderen Lokal eingenommen als in dem, wo der schöne Südländer vor kurzem Lüste und Ärgernis erregt hatte. Ein Spaziergang in den Anlagen litt unter der Hitze, da in diesen Breiten selbst der April unbarmherzig glühen konnte. Als die Abendvorstellung herankam, wurde zwar die übliche Ruhepause in den zwei voneinander getrennten Betten oben im Hotel eingehalten, aber von Schlaf war bei Nilla oder auch bei Nillo keine Rede.

Die beiden ersten Nummern verliefen vorschriftsmäßig und unter dem üblichen Beifall. Wieder applaudierte jemand in der ersten Reihe wie ein Berserker. Nillo verzog nicht die Stirne, zitterte mit dem kleinen Finger, aber Nilla schwitzte stärker als sonst. Als sie dann im ersten Sturz auf ihr Rad herabkam, hatte sie eine bange Ahnung. Sie arbeitete jedoch, jahrelang an dieselbe Übung gewöhnt, mechanisch weiter. Sie hatte durchaus das Gefühl, daß ihr der Kopf vom Körper getrennt und ihr Herz davongeflogen war. Das fingierte Abrutschen der Räder erfüllte sie mit fürchterlicher Angst. Da sie

Nillo den Rücken zukehrte, sah sie seine Augen nicht, wußte aber, daß er dasselbe fühlte. Es war eben die Frage einer Sekunde. Vielleicht hatte der Mechaniker die Räder nicht inspiziert? Wir sind die Kinder von Schrauben und Speichen. Vielleicht wollte Nillo sie ermorden und mit ihr zugrunde gehen? Wir sind alle die Kinder des Satans.

Nillo biß die Zähne zusammen. In der letzten halben Minute geschah es beinahe. Die Entführung durch die Vertikalseile klappte noch vorzüglich, dann drohte die Katastrophe, als Nillo und Nilla einander durch die Luft zustürzten. Er verfehlte ihre Hand, weil er sie vielleicht hatte verfehlen wollen. So ging es dort oben um Leben und Tod. Es war ein Atemzug, zu dem man nichts mehr beitrug, und eine Entscheidung, die in ihren Händen lag, in Nillos und Nillas Händen. Beide fühlten sich schwach wie ein Kindchen nach der Geburt, aber gleich darauf wieder sehr stark wie die Götter; weil es ja doch so knapp am Sterben vorbeiging. Nilla erreichte das Rad, auch ohne Nillos Hand, und er fand, auch ohne sie, das Seil und sprang dann eben später auf das Rad, was eine unübliche Variante des Aktes darstellte, zum erstenmal, in dieser südlichen Stadt.

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orüber, gerettet, sie standen unten. Sie sahen gerade vor sich hin. Nilla hatte eine reizende Stupsnase und einen blühenden Mund, Schweiß stand dick auf ihrer Oberlippe. Nillos Gesicht, das hagere, war leer und ausdruckslos.

Das Publikum hatte eigentlich kaum etwas bemerkt, vielleicht etwas geahnt oder gefühlt. Der Direktor, der beide so lange kannte, wußte alles und umarmte sie, als sie abtraten. Der schöne Jüngling in der ersten Reihe war noch immer verliebt, mußte .aber am nächsten Morgen ab-■" reisen, so1 daß er Niffanle mehr zu Gesicht bekam.

Niemals wurde diese Szene, ja auch nur der Name der südlichen Stadt von den beiden wieder erwähnt. Sie zeigten sich in ihrem Akt noch weitere zwei Jahre und gingen dann zu weniger gefährlichen Dingen über.

Lebenssymbol

Ein Baum in Istrien. Ein kräftiger Stamm, eine knorrige, weitverzweigte Krone, kahle Äste. Andeutungen einer kargen Landschaft.

Das Bild beruhigt und berührt zugleich. Der Baum hat etwas Ursprüngliches, Geheimnisvolles an sich. Er ist SymbeI-ides1L>eberis, von Anfang und Ende. Aus seinem Holz kann eine Wiege oder ein Sarg gezimmert werden, er kann für den Baum des Sündenfalles gelten wie für den Stamm der Erlösung auf Golgatha.

Leo Zogmayer, 1949 in Krems geboren, war zunächst Lehrer im Waldviertel und lebt heute als freischaffender Künstler. Seine Vorliebe gilt menschenleeren Landschaften, die er auf klar gegliederten, durch ihren Schwarzweißkontrast besonders stark wirkenden Blättern darstellt-Wobei ihm, wie bei diesem Baum, -immer wieder das Kunststüek gelingt, scheinbar realistische Darstellung und nachvollziehbare Empfindung miteinander zu verknüpfen. HEINER BOBERSKI

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