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Der große Bruder wacht überall

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Der Trick des Fürsten Potemkin ist in der Sowjetunion zur wohlgepflegten Tradition geworden: Im 18. Jahrhundert hat der Gouverneur auf der Halbinsel Krim Häuserattrappen überall dort errichten lassen, wo Zarin Katharina II. mit ihrem Gefolge durchzog, auf diese Weise Wohlstand und Zufriedenheit vortäuschend. Heute hat das große Land im Osten als Ganzes etwas von einem potem-kinschen Dorf an sich, zumindest wenn seine Propaganda versucht, dem Ausland das Bild der heilen sowjetischen Welt zu präsentieren, in der Sozialkonflikte fehlen, die verschiedensten Nationalitäten friedlich zusammenleben, Parteiwille sich mit Volkeswille deckt

Kurzum, der vielgepriesene „neue Mensch“ ist im Entstehen, der ohne Egoismus allein seiner Gesellschaft lebt, ein Bündel von guten Eigenschaften. Gleich zur Beruhigung: ■Noch ist es nicht soweit. Trotz permanenter Erziehung und Indoktrina-tion kommt beim Sowjetbürger allenthalben der alte Adam durch, der in seiner schillernden Vielfalt so liebenswert erscheint.

Ausländische Berichterstatter werden auf alle nur erdenkliche Weise genötigt, das Propagandagemälde in ihren Berichten und Uber-tragungen nachzuvollziehen. Mitten durch Moskau geht ein Eiserner Vorhang, der den ungebetenen Ausländer von der eigenen Bevölkerung trennen soll. Vielen Fremden ist diese Absonderung gar nicht so unangenehm: eigene Wohnblocks, von hohen Zäunen umringt und einem Wachposten rund um die Uhr davor; eigene Geschäfte, gesonderte Schulen, spezielles Bedienungspersonal.

Der Fremde ist Privilegierter: er muß nicht mit Russen in der berühmten Warteschlange stehen, seine Wohnungen sind besser, und er kann sich alles, was im Arbeiterparadies fehlt, von zu Hause kommen lassen. Was als Gastfreundschaft gepriesen wird, ist freilich nichts anderes als der Versuch, dem Fremden Einblicke in das Leben des Sowjetbürgers so schwer wie möglich zu machen.

Vollends Touristen, die zu kurzem, wenn auch nicht immer kurzweiligem Besuch in der Sowjetunion weilen, will es nicht gelingen, den Russen ungeschminkt in seiner Privat-

„Heute hat das große Land im Osten als Ganzes etwas von einem potemkinschen Dorf an sich.“

Sphäre zu beobachten. Von einer ausgewählten Mannschaft ist der Kurzbesucher in ein Tagesprogramm eingeschaltet, das einem Ablenkungsmanöver oder einer Beschäftigungstherapie gleichkommt Absonderungen zu individuellen Streifzügen werden nicht sonderlich gern gesehen. Und wer gar noch die Landessprache versteht, der kann mit besonderem Augenmerk rechnen.

Dieser cordon sanitaire um den Touristen herum hat kleine Lücken. Mutige Knaben belagern Hotels und gehen Fremde um Kaugummi an, bevor sie von den geheimen oder offenen Hütern der Ordnung vertrieben werden. Zufällige Passanten bieten einen schönen Batzen Rubel für Jeans oder sonstige Kleidungsstük-ke. Der Ober im Hotel offeriert einen fabelhaften Rubelkurs für Schillinge, D-Mark oder Dollar. Hinter der vorgehaltenen Hand versucht der Schwarzbefrackte etwa ein kleines Ikönchen an den Mann (aus dem Westen) zu bringen. Oder einen Samowar. Versteht sich: um die offiziell so geschmähte Westwährung.

Auch Taxifahrer sind offenbar in der Erziehung zum neuen Menschen noch nicht so weit fortgeschritten,

um nicht im wahrsten Sinne des Wortes Kapital aus dem Fremden zu schlagen. Das übliche Angebot: Rubel zu günstigem Schwarzkurs, kleine vermeintliche Kostbarkeiten -oder andere Dienste. Zwei Bekannte aus der Heimat wurden beispielsweise in eine sowjetische Wohnung geladen, wo zwei hübsche Moskauerinnen zu allem bereit waren. Mein boshafter Hinweis auf die starke Verbreitung von ansteckenden Krankheiten, die nur im Nahkampf übertragen werden, hat sich-ein Lob der Sowjetmedizin - nicht bewahrheitet.

Andere Gäste Moskaus hatten weniger Glück, scheinbar verlockende Geschäfte brachten nur Unannehmlichkeiten. Der große Bruder wacht überall, Taxifahrer wie Bedienungspersonal stehen fast immer in seinen Diensten.

Gleichwohl kann auch der vorübergehende Besucher der sowjetischen Hauptstadt oder anderer Städte in der UdSSR denSowjetbür-ger von einer Seite kennenlernen, aus der Ferne sozusagen wie von einer

„Haß schlägt in Liebe um, Gram in Freudentaumel, barsches Wesen in herzliche Offenheit.“

Aussichtswarte: der Bürger in der Menge, auf der Straße, in der Öffentlichkeit. In der kalten Jahreszeit fügt er sich, fest vermummt, in das monotone Grau von Volk und Häuserfassaden ein. Ein Anonymer in der Menge, ständig in Eile, auf der Suche nach den alltäglichsten Dingen zum Leben, die der Staat seinen Bürgern nur stiefmütterlich bereitstellt: stoßend und drängend, abweisend und kurz angebunden, unfreundlich und unhöflich bis zur Beleidigung, ohne den geringsten Wunsch, einen Gruß, einen freundlichen Blick zu erwidern.

Wer der abweisenden, ja unsympathischen Züge des Moskauers auf der Straße ansichtig wird, der ahnt wohl kaum, daß derselbe Rüpel in der Menge zu Hause, in den eigenen vier Wänden, ein liebevoller Gastgeber, ein zärtlicher Vater und Ehepartner sein kann. Das harte Leben hat ihn außer Haus zur Verleugnung seines eigenen Wesens gezwungen und erzogen. Dort tut er alles, um nicht aufzufallen oder Sympathie für seinen Nächsten zu zeigen. Mit einer Ausnahme: wenn sich Kinder nähern, viel zu wenig in der Siebeneinhalb-millionenstadt, dann lichten sich die düsteren Züge des Moskauers auf.

Unpersönlichkeit nach außen, Herzlichkeit in der Abgeschiedenheit, das ist eine der vielen Widersprüchlichkeiten, die der vielgerühmten und oft verdammten russischen Seele zugeschrieben werden. Mit dem ambivalenten Charakter macht jeder Bekanntschaft, dem es gegönnt ist, etwas tieferen Einblick in das Leben des Sowjetbürgers zu gewinnen. Die Breite des russischen Gefühlslebens mit extremen Ausschlägen zum Guten wie zum Bösen, und zwar in atemberaubend schnellem Wechsel, ist durch das tägliche Leben und durch die klassische Literatur belegt. Haß schlägt in Liebe um, Gram in Freudentaumel, barsches Wesen in herzliche Offenheit.

Begrüßungsszenen auf den Bahnhöfen liefern in aller Öffentlichkeit den Beweis für die zweite Seite des russischen Menschen. Da wird umarmt und geküßt, so als ob niemand anderer zugegen wäre; da wird den Tränen freier Lauf gelassen ohne jedes Genieren.

Wie gerne hätte ich einmal die Atmosphäre auf russischen Bahnhöfen gefilmt. Aber die Obrigkeit hat niemals die Erlaubnis dazu erteilt, weil es ein Bild geboten hätte, das nicht in die Schablone offizieller Darstellung Marke Potemkin paßt.

(Erhard M. Hutter war mehr als sechseinhalb Jahre als Korrespondent des ORF und der „Salzburger Nachrichten“ in Moskau tätig. Vorigen Monat entzogen die sowjetischen Behörden dem österreichischen Journalisten ohne Angabe von Gründen das Aufenthaltsvisum. Seine Ausweisung erregte internationales Aufsehen. In einer Kurzserie wird Hutter exklusiv für die FURCHE über die Sowjetunion berichten. Nächste Folge: „Die Russen privat“.)

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