6816024-1973_09_13.jpg
Digital In Arbeit

Der große Erzähler

Werbung
Werbung
Werbung

Zum 75. Geburtstag des bedeutenden Lyrikers, Romanciers und Dramatikers — der sich lieber einen Schriftsteller nennt — brachte der Paul-Zsolnay-Verlag unter dem Titel „Wendekreis der Galionen“ drei seit längerer Zeit vergriffene Erzählungen bzw. Kurzromane heraus, die sehr charakteristisch für den Autor sind: „Riviera“ aus dem Jahr 1936, „Die Inseln unter dem Wind“ von 1952 und „Der junge Moncada“ von 1954. — Die Abenteuer eines adeligen Genueser Gaskassiers spanischer Abstammung, des Don Luis Holefia de Alma, der zuletzt genötigt wird, auf einem Schmugglerschiff den Steuermann zu machen, werden in der Art von Voltaires „Candide“ erzählt. — Der junge Herr Moncada macht sich nicht nur zum Grafen, sondern erobert auf dem Schiff nach Europa auch die Liebe einer schönen und reichen jungen Erbin. Das mittlere Stück mit der Zentralgestalt Spangenberg alias Gabriel Clam, der sich auch Artieda nennt, ist das bedeutendste. Es stellt die Frage nach der Identität.

Das alles sind abenteuerliche Gestalten und spannende Sujets, über deren Darstellung der Autor einmal schrieb: „Die vollkommensten Erzählungen sind jene, welche bei größter Wahrscheinlichkeit, die sie für sich beanspruchen können, den höchsten Grad von Unwahrschein-lichkeit erreichen.“

Lernet-Holenia hat den Blick für das einmalige Ereignis, das Gespür für den Zugwind der Geschichte. Seine Erzähltechnik ist zugleich brillant und lässig. Es finden sich bei ihm Elemente des strengen epischen Stils, wie er etwa bei Kleist am ausgeprägtesten erscheint; des Konversationsstücks — darin Lernet ja ein Meister ist und wofür er schon 1926 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet wurde; Passagen, die an die Meisterwerke der französischen Realisten des 19. Jahrhunderts erinnern — und solche, die sofort in filmgerechte Sequenzen in einem Krimi umgesetzt werden könnten. Daneben steht Traumhaft-Irreales, gibt es polemische Ausfälle und Betrachtungen, die von einem höchsten Standort angestellt wurden und in abgründige Tiefen führen, Theologumena über den Tod und das Schicksal des Menschengeschlechts.

Auf zwei Besonderheiten dieser Kürzromane sei noch hingewiesen. Obwohl die Handlung in der Gegenwart bzw. in der allerjüngsten Vergangenheit spielt, ist der Hintergrund oft ein altösterreichischer. Hier kennt Lernet-Holenia jedes Detail, alle merkwürdigen Überschneidungen und Konfigurationen. So etwa schreibt er über eine junge Schauspielerin, die unser adeliger Gaskassier Don Luis Holefia de Alma kennenlernt: „Sie war eine Deutsche, das heißt, er hielt sie dafür, weil sie deutsch sprach, in Wahrheit jedoch war sie eine Schwäbin (oder was man so nennt) aus einer der ungarischen Gegenden, die jetzt zu Rumänien oder Jugoslawien gehören und wo alle Deutschen Schwaben oder Sachsen heißen, wenngleich sie es durchaus nicht immer zu sein brauchen ...“

Das andere Charakteristikum ergibt sich vielleicht aus dem Umstand, daß Lernet-Holenia viel aus dem Französischen, Italienischen und Spanischen übersetzt hat. Man stößt nämlich immer wieder auf Sätze, auf ganze Passagen, die wie aus dem Französischen übertragen anmuten. Zum Beispiel.....denn die Liebe, wenn sie nur wirklich ihre Herrschaft antritt, ist, so sonderbar es klingt, völlig herzlos; sie verlangt zwar für sich die zarteste Aufmerksamkeit, übt sie aber gegen jene, die sie nicht zu ihrem Gegenstand erwählt hat, nicht im geringsten“. (Bei solchen Anklängen muß freilich daran erinnert werden, daß man nur das annimmt, was bereits als Disposition in einen gelegt ist.)

Ist man einmal auf solche Stellen aufmerksam geworden, so bereitet es ein zusätzliches Vergnügen, nach immer neuen zu suchen. Ein zusätzliches Vergnügen, sagen wir, bei der Unterhaltung, die dieser brillante, geistvolle und eigenwillige Erzähler zu bieten hat. — Man findet sie ebenso in den Prosabänden „Götter und Menschen“, „Das Bad an der belgischen Küste“ und „Die Wege der Welt“. Letzterer erschien im Herold-Verlag, ist aber völlig vergriffen; die meisten übrigen Bücher Lernets brachte der Paul-Zsolnay-Verlag heraus.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung