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Der große Unruhestifter

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Anläßlich der Wiederkehr des 150. Geburtstages und des 90. Todestages von Dostojewski] hat der bekannte Psychologe, Essayist und Romancier Manes Sperber an drei deutsche Autoren und einen Franzosen 24 in vier Gruppen gegliederte Fragen gerichtet und das Ergebnis dieser Enquete mit einer eigenen, 45 Seiten umfassenden Studie über Dostojewskij eingeleitet.

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Anläßlich der Wiederkehr des 150. Geburtstages und des 90. Todestages von Dostojewski] hat der bekannte Psychologe, Essayist und Romancier Manes Sperber an drei deutsche Autoren und einen Franzosen 24 in vier Gruppen gegliederte Fragen gerichtet und das Ergebnis dieser Enquete mit einer eigenen, 45 Seiten umfassenden Studie über Dostojewskij eingeleitet.

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Der Enkel und Urenkel von Popen, dessen Vater Militärarzt und Direktor eine Armenhospitals war — und der von seinen Leibeigenen erschlagen wurde, war wahrscheinlich polnischer Abstammung. Trotzdem haßte Dostojewskij die Polen — aber auch die Deutschen und die Franzosen. Der Verehrer Schillers und Übersetzer Balzacs war ein großer Verächter des Westens, weil er in ihm den Wurzelboden und Träger des heraufkommenden Atheismus sah. In revolutionäre Umtriebe verwickelt, wurde er mit 28 Jahren zum Tod verurteilt, aber, sozusagen während der Vollstreckung, zu vier Jahren Sibirien und vier Jahren Militärdienst begnadigt.

Dostojewskij lebte am Rande der Hölle und hat das russische Volk in seinen Abgründen kennengelernt. Trotzdem sind seine Werke keine phantasieverbrämte Autobiographie, aber sie liefern, zusammen mit einem umfangreichen Notizmaterial, einem Tagebuch und vielen bekenntnishaften Briefen, sehr aufschlußreiche psychologische und analytische Unterlagen. Der Heilige und der Sünder, die negative Bindung an einen allmächtigen Gott, der kranke Stolz, durch Herrschsucht kompensiert, die fieberhafte Suche nach Geld — mächtiger als die leidenschaftlichste Liebe —, Selbstbestrafung und die Erkenntnis, daß die Demut die größte Kraft ist — das sind -nur einige Motive Dostojew-skijs, die Manes Sperber anklingen läßt.

Alle vier befragten Autoren — Boll, Lenz, Malraux und Nossack — bezeugen, daß sie Dostojewski] schon sehr früh, zwischen ihrem 14 und 20. Lebensjahr, erstmals begegnet sind. Meist durch den Roman „Schuld und Sühne“. Und sie sind immer wieder zu Dostojewskij zurückgekehrt. Später verteilen sich dann die Gewichte: Für Boll sind „Die Dämonen“ und „Der Idiot“ die wichtigsten Werke. Glaube und Nihilismus bilden keinen Gegensatz, und im Unterschied zur westlichen Welt, deren Theologen erklären „Gott ist tot“, kann Rußland, so meint Boll, zu einem Land der Gottesleidenschaft werden. Für ihn ist Dostojewskij derjenige Autor, der zum erstenmal die Großstadt und ihre Menschen geschildert und der eine Theologie des Geldes aufgedeckt hat — die noch zu schreiben wäre.

Siegfried Lenz interessiert der frühe Begriff des Sozialismus bei Dostojewskij, der sich später verdunkelte, er findet in seinen Werken Elemente des „frühchristlichen Liebeskommunismus“. Moral ist für Dostojewskij ein Element der Politik, und Dostojewskijs Tagebuch wurde von seinen Zeitgenossen als das „moralische Gewissen der Nation“ angesehen. Schriebe Dostojewskij heute, so wäre sein Al-joscha — meint Lenz — vielleicht Nachtportier im Frankfurter Hof während der Buchmesse und würde aus den reichlichen Trinkgeldern einen Kindergarten für Gastarbeiterkinder einrichten.

Malraux' erster Eindruck von Dostojewskij war: ein verstörter, tragischer Dickens. Auch er hat alle großen Romane mehrmals gelesen. Für ihn sind „Die Dämonen“ deshalb am wichtigsten, weil er hier das Shakespearesehe Element am stärksten ausgeprägt findet. Dostojewskij kann nach Malraux' Meinung ebensowenig politisch interpretiert werden wie der heilige Johannes, er ,ist der große Zerstörer der konventionellen Romanform und der Schöpfer so großer imaginärer Gestalten wie es Shakespeare, Balzac und Victor Hugo waren. Die Begriffe von „Schuld“ und „Sühne“ habe er — wohl absichtlich — verwechselt...

Für Hans Erich Nossack ist Dostojewskij immer mehr als ein Literat gewesen, die „Memoiren aus einem Totenhaus“ liest er ohne jede Kritik, als sei's ein Stück von ihm. Er empfindet Dostojewskij als antihistorisch, es fehle ihm alles zum Politiker. Im Grunde Anarchist, umgibt er sich mit den starken Mauern des Zarismus, der Slawo-philie und der Orthodoxie. Als Motto könne man über sein Werk ein russisches Dictum setzen: „Man kann nicht mit einem fremden Gewissen leben.“ Sein Werk ist eine einzige Warnung vor jedem System, auch einem religiösen. Wie kaum ein anderer erfülle Dostojewskij die Aufgabe des großen Schriftstellers: zu fragen — und in Frage zu stellen. Manes Sperber nannte ihn einen der größten Unruhestifter, der die stets fragmentarische Wahrheit über den Menschen bezeugt wie keiner nach ihm.

WIR UND DOSTOJEWSKIJ. Eine Debatte mit Heinrich Boll, Siegfried Lenz, Andre Malraux und Hans Erich Nossack, geführt von Manes Sperber. Verlag Hoff mann und Campe (Standpunkt: Analysen, Dokumente, Pamphlete). 103 Seiten.

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