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Der Grundvertrag ist kein Teilungsvertrag

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Das Karlsruher Urteil über die Vereinbarkeit. des Grundvertrags mit dem Grundgesetz ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und dürfte noch lange Zeit die verfassungsrechtlichen und -politischen Diskussionen über die Bonner Deutschlandpolitik bestimmen. Während Franz Josef Strauß vom Sieg Bayerns für die deutsche Verfassung spricht, überschreibt der sozialdemokratische „Vorwärts“ seinen Leitartikel mit dem Titel „Das Grundgesetz ist kein Korsett — Abfuhr für Strauß“. Die Zeitung gesteht aber ein, daß die Karlsruher Verfassungsinterpretationen „bei aller Genugtuung über das Ergebnis in Bonn nicht nur eitel Freude auslösen werden“.

Mit welch strengen Maßstäben das Gericht die Konformität des Grundvertrags mit der Verfassung geprüft hat, verdeutlicht nicht erst die Begründung, sondern schon das Urteil. Das Gericht hat den Grundvertrag nicht als solchen, sondern „in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung“ mit dem Grundgesetz für vereinbar erklärt. Unmißverständlich stellt das Gericht in der Begründung fest: „Alle Ausführungen der Urteilsbegründung, auch die, die sich nicht ausschließlich auf den Inhalt des Vertrags selbst beziehen, sind nötig, also im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Teil der die Entscheidung tragenden Gründe.“

Die Karlsruher Entscheidung, die alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden bindet, ist in ihrer restriktiven Auslegung teilweise noch über die Aussagen hinausgegangen, mit denen der Freistaat Bayern seine Normenkontrollklage begründet hat.

Vorweg sei festgestellt: Das Gericht folgt in seiner ausführlichen rechtliehen Begründung in zentralen juristischen Punkten nicht den Plädoyers der Prozeßbevollmächtigten der Bundesregierung und hat in nur geringem Maße deren politische Darlegung in seine Analyse einbezogen.

Bereits bei der Auslegung des Moskauer Vertrags vom 12. August 1970 und des Warschauer Vertrags vom 7. Dezember 1970, und dann beim Grundvertrag, machte sich in einigen Staats- und völkerrechtlichen Abhandlungen die Tendenz bemerkbar, den Grundvertrag (und die Ostverträge) nicht an den Geboten des Grundgesetzes, sondern dieses an den Aussagen des Grundvertrags (und den Ostverträgen) zu messen. Die Formeln vom „Bedeutungswandel von Verfassungsbestimmungen“ und „stillem Verfassungswandel“ tauchten auf. Der „Deutschland“-Begriff, der sich im Laufe der Zeit geändert habe, könne ohne weiteres im Grundgesetz weiter gebraucht werden, nur habe sich seine Deutung den gewandelten Verhältnissen anzupassen. Man berief sich dabei auf mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, ohne aber darauf hinzuweisen, daß sich diese in keinem Fall auf die zentrale Frage nach dem „Deutsch-land“-Begriff des Grundgesetzes bezogen haben.

Es ist vornehmlich das Verdienst des Staats- und Völkerrechtlers Otto Kimminich, die mit einer solchen Verfassungsinterpretation heraufbeschworenen Gefahren mit aller Deutlichkeit aufgezeigt zu haben. In seinem beachtenswerten Aufsatz „Ein Staat auf Rädern? Zur verfassungsrechtlichen Lage der Bundesrepublik Deutschland“ stellt er fest: „... es muß entschieden abgelehnt werden, daß solche grundlegende Veränderungen durch sogenannten .stillen Verfassungswandel' auf kaltem Wege erreicht werden, ohne daß alle damit zusammenhängenden Fragen ausgiebig im Parlament und in der Öffentlichkeit — die sich mit dieser schwierigen Problematik erst langsam vertraut machen muß — diskutiert worden sind.“ („Politische

Studien“, Oktober 1972, Sonderheft S. 24).

Den hier angeprangerten zweifelhaften Interpretationen des Grundgesetzes hat das Bundesverfassungsgericht nun einen Riegel vorgeschoben. Unmißverständlich heißt es in der Begründung zum Urteil vom 31. Juli:

„Maßstab des Normenkontrollverfahrens ist das Grundgesetz. Es verbindlich auszulegen, ist Sache des Bundesverfassungsgerichts. Auf dieser Grundlage gibt es kein Spannungsverhältnis zwischen politischer Wirklichkeit und Verfassungsordnung, das behoben werden könnte durch die Überlegung, die geltende Verfassungsordnung könnte durch einen Vertrag geändert werden. Er schafft weder materielles Verfassungsrecht noch kann er zur Auslegung des Grundgesetzes herangezogen werden. Es ist vielmehr umgekehrt: Ein Vertrag, der mit dem geltenden Verfassungsrecht in Widerspruch steht, kann verfassungsrechtlich nur durch eine entsprechende Verfassungsänderung mit dem Grundgesetz in Einklang gebracht werden.“

Das Gericht hat die früher in seine Argumentation aufgenommene Identitätsthese, auf der das staats-und völkerrechtliche Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland zumindest bis zum Herbst 1969 weitgehend beruht hat und die von der SPD/FDP-Bundesregierung aufgegeben worden ist, um eine neue Variante bereichert. Im Konkordats-Urteil vom 26. März 1557 definierte das Bundesverfassungsgericht:

.....wenn auch die durch das

Grundgesetz geschaffene Organisation vorläufig in ihrer Geltung auf einen Teil des Reichsgebiets beschränkt ist, so ist die Bundesrepublik Deutschland identisch mit dem Deutschen Reich.“

Die neue einschränkende Formel lautet, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht „Rechtsnachfolger“ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat „Deutsches Reich“ ist — „in bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ,teilidentisch', so daß insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht“.

Neuer Definitionen bedient sich das Bundesverfassungsgericht auch hinsichtlich des „Staatsvolks“ und des „Staatsgebiets“. Die Bundesrepublik umfasse, „was ihr Staatsvolk und ihr Staatsgebiet anlangt, nicht das ganze Deutschland, unbeschadet dessen, daß sie ein einheitliches Staatsvolk des Völkerrechtssubjekts .Deutschland' (Deutsches Reich), zu dem die eigene Bevölkerung als untrennbarer Teil gehört, und ein einheitliches Staatsgebiet .Deutschland' (Deutsches Reich), zu dem ihr eigenes Staatsgebiet als ebenfalls nicht abtrennbarer Teil gehört, anerkennt“. Anknüpfend an frühere Entscheidungen fügt das Gericht hinzu, die Bundesrepublik beschränke staatsrechtlich ihre Hoheitsgewalt auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes“.

Wie sehr das Bundesverfassungsgericht am Rechtsbegriff „Deutschland“ festhält, geht auch aus dieser Feststellung hervor: „Die Deutsche Demokratische Republik gehört zu Deutschland und kann im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland nicht als Ausland angesehen werden. Deshalb war der Interzonen-handel und ist der ihm entsprechende innerdeutsche Handel nicht Außenhandel.“ Die die beiden deutschen Staaten trennende Grenze wird als eine „staatsrechtliche Grenze“ qualifiziert.

Im Gegensatz zur Deutschlandpolitik der bis zum Herbst 1969 amtierenden Bundesregierungen hat Bundeskanzler Willy Brandt vom

Beginn seiner Amtszeit an die Begriffe „Wiedervereinigung“ und staatliche „Einheit Deutschlands“ nicht mehr im Sinne des Wiedervereinigungsgebots verwandt. Als politisches Ziel postulierte er die „Einheit der Nation“.

Nach dem Karlsruher Spruch stellt sich die Frage, ob es das Grundgesetz zuläßt, daß der auf die Verfassung verpflichtete Bundeskanzler nicht mehr von der „Einheit Deutschlands“, sondern nur noch von der „Einheit der Deutschen“ sprechen kann. Das Urteil vom 31. Juli 1973 knüpft an die Feststellungen des KPD-Verbotsurteils an, in dem das Wiedervereinigungsgebot aus der Präambel des Grundgesetzes entwickelt worden ist. Damals erklärte das Gericht, dem Vorspruch des Grundgesetzes komme naturgemäß vor allem politische Bedeutung zu: „Darüber hinaus hat aber der Vorspruch auch rechtlichen Gehalt.“ Aus dem Vorspruch sei für alle politischen Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland die Rechtspflicht abzuleiten, „die Einheit Deutschlands mit allen Kräften anzustreben, ihre Maßnahmen auf dieses Ziel auszurichten und die Tauglichkeit für dieses jeweils als einen Maßstab ihrer politischen Handlungen gelten zu lassen... Nach der negativen Seite hin bedeutet das Wiedervereinigungsgebot, daß die Staatsorgane alle Maßnahmen zu unterlassen haben, die die Wiedervereinigung rechtlich “hindern oder faktisch unmöglich machen.“

Im Leitsatz 4 zum Urteil vom 31. Juli 1973 ist das Wiedervereinigungsgebot verankert. Aus dem Wiedervereinigungsgebot folge:

„Kein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland darf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel aufgeben, alle Verfassungsorgane sind verpflichtet, in ihrer Politik auf die Erreichung dieses Zieles hinzuwirken, das schließt die Forderung ein, den Wiedervereindgungsanspruch im Inneren wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten — und alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde.“ In der Begründung zum Urteil heißt es unmißverständlich dazu: „Die Wiedervereinigung ist ein verfassungsrechtliches Gebot.“

Es kommt zum klaren Ergebnis, daß die Bundesrepublik Deutschland eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR nicht nur nicht förmlich ausgesprochen, sondern im Gegenteil wiederholt ausdrücklich abgelehnt habe. Dabei gebraucht es eine neue Formel, indem es von einer „faktischen Anerkennung besonderer Art“ spricht.

Bemerkenswert ist hier, mit welchem Nachdruck das oberste deutsche Gericht die von der Bundesregierung vertretene Zwei-Staaten-These restriktiv interpretiert. So bezeichnet es den Grundvertrag als einen bilateralen Vertrag, für den die Regeln des Völkerrechts gelten und der die Geltungskraft wie jeder andere völkerrechtliche Vertrag hat, „aber zwischen zwei Staaten, die Teile eines noch immer existierenden, wenn auch handlungsunfähigen, weil noch nicht reorganisierten umfassenden Staates Gesamtdeutschland mit einem einheitlichen Staatsvolk sind, dessen Grenzen genauer zu bestimmen hier nicht nötig ist. Daraus ergibt sich die besondere rechtliche Nähe, in der die beiden Staaten zueinander stehen“.

Die DDR fühlte sich durch Brandts „Nations“-Thesen sofort herausgefordert und weigerte sich erfolgreich, in den Grundvertrag die von der Bundesregierung gewünschte Formel von der „Einheit der Nation“ aufzunehmen. Man einigte sich darauf, vom Dissens in dieser Frage auszugehen. So heißt es in der Präambel des Grundvertrags: „ ... unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage.“

Auch in diesem Punkt wartet das Gericht mit einer neuen Interpretation auf: „Die .nationale Frage' ist für die Bundesrepublik konkreter das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, das auf die .Wahrung der staatlichen Einheit des deutschen Volkes geht.“

Das Gericht gelangt zu dem klaren Schluß, daß der Grundvertrag kein Teilungsvertrag ist, sondern ein Vertrag, „der weder heute noch für die Zukunft ausschließt, daß die Bundesregierung jederzeit alles Mögliche dafür tut, daß das deutsche Volk seine staatliche Einheit wieder organisieren kann“.

Von niemandem war erwartet worden, daß das Bundesverfassungsgericht mit solchem Nachdruck betont: Es wäre rechtlich die Aufgabe einer unverzichtbaren Rechtsposition, wenn die Verweisung auf die Vier-Mächte-Verantwortung für Gesamtdeutschland bedeuten würde, „künftig sei sie allein noch eine (letzte) rechtliche Klammer für die Fortexistenz Gesamtdeutschlands; verfassungsgemäß ist nur — wie es auch die Bundesregierung selbst versteht —, daß sie eine weitere Rechtsgrundlage für das Bemühen der Bundesregierung um Wiedervereinigung bildet, nämlich eine .völkerrechtliche' neben der staatsrechtlichen.“

Bei allem Respekt vor dem obersten deutschen Gerieht muß vermerkt werden, daß von Seiten der Bundesregierung keine autoritative Stellungnahme vorliegt, aus der hervorgeht, daß sie die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands noch im Wege einer staatsrechtlichen Lösung für möglich hält. Das ist aufilj insofern nicht leicht vorstellbar, als zumindest die Elemente des „Besonderen“ des Grundvertrags, für den, wie das Bundesverfassungsgericht selbst feststellt, die Regeln des Völkerrechts gelten, dafür keine tragfähige staatsrechtliche Basis abzugeben vermögen.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Präzision und in detaillierter Form der Bundesregierung aufgezeigt, daß das Grundgesetz ihrem deutschlandpolitischen Spielraum Grenzen setzt. Die Karlsruher Aussage, daß beide Staaten als „Teilstaaten Gesamtdeutschlands“ zueinander stehen, richtet sich sowohl an die Adresse Bonns als auch Ost-Berlins. Die DDR wird lernen müssen, mit einem Teilstaat Gesamtdeutschlands zu leben, der stolz darauf ist, eine Verfassung zu besitzen, über deren Einhaltung das oberste deutsche Gericht streng wacht.

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