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Der Haftentlassene -eine soziale Aufgabe!
Haben Sie privat oder in Ihrem Beruf schon einmal die Begegnung mit einem Haftentlassenen gehabt? - Wie haben Sie auf seine Frage nach Arbeit reagiert? - Waren Sie, wenn Sie dazu die Möglichkeit hatten, bereit, dem Mann zu helfen? - Sind Sie der Meinung, daß der Haftentlassene zu büßen hat und Ihrer Hilfe nicht wert ist, weil er sich durch sein Verhalten vor der Entlassung aus der Gesellschaft selbst ausgeschlossen hat?
Vielleicht kennen Sie den alten Rechtssatz „ne bis in idem“. Dieser lateinische Satz bedeutet, daß ein Rechtsbrecher für eine Tat nicht zweimal bestraft werden darf. Ich zähle mich nicht zu denen, die den Rechtsbruch zu verharmlosen suchen oder die Auffassung vertreten, daß die bestehende Gesellschaftsordnung die Ursache der Kriminalität sei und daher (mit Gewalt) geändert oder aufgelöst werden müsse. Ich behaupte aber, daß unsere Gesellschaft das „ne bis in idem“ gegenüber den aus der Untersu-chungs- oder Strafhaft Entlassenen täglich verletzt und auch der sogenannte Christ in vielen Fällen die Hilfsbedürftigkeit des Haftentlassenen nicht zur Kenntnis nehmen will.
Um es anders auszudrücken: So wie sich unsere materialistische Wohlstandsgesellschaft sehr oft bedenkenlos der geisteskranken, körperbehinderten und alten Menschen durch Abschieben der Verantwortung auf irgendeine Sozialeinrichtung zu entledigen sucht, und zwar auch dann, wenn der Fall weder ärztlicher Hilfe bedarf, noch selbst- oder andere gefährdende Tendenzen aufweist, wird der endgültige Ausschluß des zweifellos unbequemen Kriminellen gefordert, zumindest aber erwünscht. Wenn in fernen Ländern Menschen wegen ihrer politischen oder religiösen Gesinnung inhaftiert werden, schreit man pflichtgemäß; falls aber in unserer nächsten Umgebung ein Haftentlassener, der seine Tat bereits gesühnt hat, um Arbeit bittet, meldet man Bedenken an und übersieht ganz, daß Arbeits- und damit Mittellosigkeit eine der Hauptquellen des für die Gesellschaft so gefährlichen, zumindest aber kostspieügen Rückfalls und Absin-kens in die sogenannte Berufskriminalität ist. Es ist eine bedauerliche Realität, daß viele private Arbeitgeber, aber auch öffentliche Stellen und staatliche Unternehmungen grundsätzlich nicht
bereit sind, Entlassene zu beschäftigen, und zwar auch dann nicht, wenn ihnen die Arbeitskraft des Gefangenen, weil wohlfeil, oft sehr gelegen kommt.
Ist unter diesen Verhältnissen eine wirksame Bekämpfung der Kriminalität mögüch? - Kann ein Existenzloser in dieser Lage Schadensgutmachung leisten und mit seiner Wiedereingliederung in die Gesellschaft - die von ihm erwartet wird - rechnen?
Mir kommt es widersinnig und kurzsichtig vor, vom Staat wirksame Maßnahmen gegen die Kriminalität und vom Verurteilten Schadensgutmachung und Resozialisierung zu fordern, wenn wir selbst nicht bereit sind, dem Besserungswilligen - sofern sich dazu im Einzelfall eine Möglichkeit ergibt - eine echte Chance zu bieten. Wir sind dann unglaubwürdig und im Kampf gegen das Unrecht hilflos, wenn unser soziales Empfinden hinter den uns verwandtschaftlich geistig oder politisch Nahestehenden endet oder erst erwacht, wenn unser eigener Lebensbereich von Umständen berührt wird, die wir als ungerecht und hart empfinden. Soziales Verhalten -auch gegenüber Rechtsbrechern, noch dazu, wenn sie bereits gebüßt haben -hat nichts mit Mitleid oder ungerechtfertigter Milde zu tun, es ist vielmehr eine Notwendigkeit und Verpflichtung für jeden Staatsbürger, dem der demokratische Rechtsstaat ein Anliegen ist.
Nicht erst ein besserungswilliger Haftentlassener hat seiner Resignation schon nach wenigen Tagen der wiedergewonnenen Freiheit mit den Worten Luft gemacht: „Meine Strafe hat mit der Entlassung begonnen!“ Sollten wir solche Rufe nicht doch ernst nehmen?
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