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Der Hiob des Vierten Standes

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Georg Büchner, der Dichter des „Woyzek“, wurde am 17. Oktober 1813 geboren — im gleichen Jahr wie der Vater der modernen Existenzphilosophie, Sören Kierkegaard, der die Lebensangst zum Ausgangspunkt einer Diskussion um das menschliche Dasein und seine Beziehung zu Gott machte. — Büchner starb, noch nicht 24 Jahre alt, in Zürich und erhielt zwei Dezennien später am Zürichberg ein Ehrengrab — das freilich nicht dem Dichter, sondern dem vielversprechenden Naturwissenschaftler gestiftet worden war, der sich als Privatdozent habilitiert hatte. Als Dichter wurde Büchner erst viel später entdeckt, und die erste historisch-kritische Ausgabe seiner Werke erschien 1967!

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Georg Büchner, der Dichter des „Woyzek“, wurde am 17. Oktober 1813 geboren — im gleichen Jahr wie der Vater der modernen Existenzphilosophie, Sören Kierkegaard, der die Lebensangst zum Ausgangspunkt einer Diskussion um das menschliche Dasein und seine Beziehung zu Gott machte. — Büchner starb, noch nicht 24 Jahre alt, in Zürich und erhielt zwei Dezennien später am Zürichberg ein Ehrengrab — das freilich nicht dem Dichter, sondern dem vielversprechenden Naturwissenschaftler gestiftet worden war, der sich als Privatdozent habilitiert hatte. Als Dichter wurde Büchner erst viel später entdeckt, und die erste historisch-kritische Ausgabe seiner Werke erschien 1967!

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Seit der Jahrhundertwende beriefen sich drei Schulen und Richtungen nachdrücklich auf ihn als Vorbild und Wegbereiter: Die Naturalisten feierten Büchner als wirklichkeitstreuen Schilderer eines bestimmten Milieus. Die expressionistischen Dichter hörten im „Woyzek“ die Naturlaute, in denen ein dumpfes Menschentum den Ausdruck seines Inneren sucht. Ihnen galt Büchner als ein „Erschütterter“ und als Ankläger sozialer Zustände. Seine aufgebrochene Form, die lockere Folge filmisch ablaufender Szenen (die Büchner ohne jede Rücksicht auf die Bühnen seiner Zeit niederschrieb) wurden vorbildlich für Wedekind und August Stramm, für den jungen Carl Sternheim, für Kasimir Edschmid und Georg Kaiser. Und den Heutigen erscheint Büchner als „tragischer Nihilist“, als erster Gestalter des existenzialistischen Lebensgefühls, und die Woyzek-Tra-gödie wird als existentialistisches Dokument par excellence interpretiert.

Büchner, der bereits während seiner Studienzeit in Gießen tief in die revolutionären Umtriebe der 30er Jahre geraten war, der im „Hessischen Landboten“ ein revolutionäres Manifest unter dem Titel „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ veröffentlicht und 1834 die geheime Gesellschaft für Menschenrechte gegründet hatte, war selbst kein armer Prolet mit Wollschal um den Hals und zerrissenen Schuhen, sondern ein soignierter Jüngling mit feinem Zylinder und hohen Ansprüchen, dem eine große Karriere winkte. Nervös und überempfindlich, reagierte er wie ein Seismograph auf die geistigen Erschütterungen seiner Zeit. „Ich finde“, schrieb Büchner an seine Braut, „in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Das Muß ist eins von den Verdammungsurteilen, womit der Mensch getauft worden ist.“ Immer, so schreibt er 1833 aus Gießen, habe er das Gefühl des Gestorbenseins gehabt, alle menschlichen Gesichter schienen ihm mit hippokratischen Zügen gezeichnet, die Augen verglast, die Wangen wie von Wachs, „ ... und wenn dann die ganze Maschinerie zu leiern anfing, die Gelenke zuckten, die Stimme herausknarrte und ich das ewige Orgellied heraustrillern hörte und die Wälz-chen und Stiftchen im Orgelkasten hüpfen und drehen sah; ich verfluchte das Konzert, den Kasten, die Melodie und — ach, wir armen schreienden Musikanten ...“

Mit diesem „mechanistischen Weltbild“ verbindet sich ein anderer Gedanke, den die Titelheldin von „Leonce und Lena“ einmal ausspricht: „Ich glaube, es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, bloß weil sie sind.“ Dies ist die Basis des existentiellen Lebensgefühls: das Sein als Krankheit, als Leiden, die Welt aus Stoff, das heißt aus dem Nichts geschaffen, in das Nichts gestellt — und Gott verbirgt sich. Oder leidet er mit? „Woyzek“ ist das Gedicht vom Leiden der Kreatur, vom Leid und von der Verlassenheit des Menschen in einer kalten Welt, gegen die dieser passive Held, dieser „böhmisch-deutsche Hiob des Vierten Standes“, wie ihn Arnold Zweig genannt hat, nicht protestiert, sondern die er als gegeben, als zu tragende Last hinnimmt. *

Alban Berg, 1885 in Wien geboren, bis etwa 1910 Schüler Schönbergs, sah im Frühjahr 1914 in den Wiener Kammerspielen eine Aufführung des Büchnerschen „Woyzek“, die ihn tief beeindruckte. Der bei Kriegsausbruch Eingezogene empfand das Kasernenleben als „moralisches Inferno“, und während eines Aufenthaltes im Militärspital in Bruck-Kirälyhida mag sich sein Plan, aus Büchners „Woyzek“ eine Oper zu machen, konkretisiert haben. 1917 war er mit der Texteinrichtung fertig. Als Vorlage diente ihm eine unvollständige Ausgabe von Karl Emil Franzos, die 23 Szenen (Bilder) umfaßte, aus denen Berg 15 auswählte und die er in drei Akte zu je fünf Szenen gliederte. Die Hauptarbeit an der Komposition erfolgte in den Jahren 1918 bis 1920, die Instrumentation, innerhalb von acht Monaten, war im April 1921 abgeschlossen.

Das Hauptproblem für Berg war die musikalische Formung dieses aus 15 Einzelbildern bestehenden Mosaiks, zumal noch 14 Zwischenspiele zu schreiben waren. Mit einer noch so treffenden illustrierenden Musik hätte er der Monotonie, ja der Langeweile nicht ausweichen können. Auch das „Durchkomponieren“ kam nicht in Betracht. Also wählte Berg — ohne die Kunstform Oper revolutionieren oder ein Exempel statuieren zu wollen — einen dritten Weg: jeder Szene wurde eine andere, nur ihr eigene Form zugeordnet. Der erste Akt besteht aus fünf, die Hauptpersonen skizzierenden „Charakterstücken“. Der zweite Akt ist eine Symphonie in fünf Sätzen (Sonatensatz und Fuge, Largo, Scherzo, Rondo und Introduktion). Der dritte Akt besteht aus sechs In-ventionen: über ein Thema, einen Ton, Rhythmus, Sechsklang, eine Tonart und eine Achtelbewegung. Im letzten Zwischenspiel drückt Berg sein persönlichstes Gefühl aus, faßt er alle zu Wozzeck in Beziehung tretenden thematischen Gestalten zusammen. Der Beginn dieses großartigen und ergreifenden Adagios stammt aus einer Symphonie, an der Berg während des ersten Kriegsjahres arbeitete; er nahm ihn auf Bitte seiner Frau in dieses Orchesterstück auf.

Zur Realisierung seiner Klangvorstellung brauchte Berg ein großes Orchester mit vierfach besetzten Bläsern, mit vielfältigem Schlagwerk, Celesta und Harfe sowie eine Militär- und eine Heurigenmusik auf der Bühne mit Ziehharmonika und verstimmtem Klavier. Selten benützt Berg diesen großen Apparat zu Klangballungen, es geht ihm vielmehr um feinste Differenzierung und sonore Konturierung der einzelnen Nummern. In Melodik und Harmonik werden Quarten häufig verwendet, Septimen steigern die Spannung, innerhalb der einzelnen Sätze gibt es vielfältige instrumentale Varianten, die Formen sind aphoristisch zugespitzt, die Kadenzwirkung ist systematisch abgeschwächt. — Die Singstimme wird sehr differenziert behandelt, vom Cantabile über Sprechgesang bis zur rhythmischen Deklamation und freiem Sprechen. Der besondere Reiz von Bergs Musik besteht in der Verbindung von vegetabilisch Dumpfem und architektonischer Helle, man könnte auch von einem wohlorganisierten harmonischen Chaos sprechen.

Denn Berg hat sich in seiner „Woz-zeck“-Partitur noch nicht der Zwölftontechnik bedient, sondern echte „atonale“ Musik geschrieben. (Hierzu Adorno: „Berg hat versucht, den Bann der Zwölftontechnik zu brechen, indem er sie verzauberte.“) Und dank dieses Zaubers ist diese Musik so lebendig, so faszinierend. Bergs Hang zum Schwächeren, Unterliegenden kommt in ihr ebenso zum Ausdruck wie sein Mitleid, von dem in Wagners Opern so viel geredet wird: hier ist es. „Keine Musik aus unserer Zeit war so menschlich wie die seine, das rückt sie den Menschen so fern“, schrieb einer seiner Schüler. Diese Musik schildert nicht naturalistisch, sondern sie gibt die Schauer der Erregung in den Menschen wieder: in der Landschaft, bei Sonnenuntergang, bei Mondaufgang, am nächtlichen Teich, wenn Trompetensignale ertönen oder ein großer Wind sich plötzlich erhebt. Es gibt auch geradezu volkstümliche Passagen in dieser Partitur. In ihnen bedient sich Berg einer einfacheren Technik, häufig der Terzen, Quarten und der Ganztonreihe sowie polytonaler Schreibweise.

Zum erstenmal erklang „Wozzeck“-Musik am 15. Juni 1924 beim 54. Musikfest des Allgemeinen Musikvereins in Frankfurt: Hermann Scherchen dirigierte die „drei Fragmente“ aus der Oper. Noch vor der Berliner Premiere am 14. Dezember des gleichen Jahres unter Erich Kleiber kam es zu heftigen Kontroversen. 34 Orchesterproben und 14 mit vollem Ensemble hatten vor der Uraufführung stattgefunden, bei der Publikum und Kritik in zwei Lager gespalten waren: es gab nur Enthusiasten und erbitterte Gegner, deren einer sich dazu hinreißen ließ, den Komponisten als „einen Chinesen aus Wien“, ja als einen Verbrecher und den Beifall aus dem Parkett als „ein Geprassel von Lügen“ zu bezeichnen. Besonders tat sich auch der Berichterstatter der „Neuen Freien Presse“ hervor, der von der Oper „Wozek“ eines gewissen „Albin Berg“ zu melden wußte (Büchners Held heißt Woyzek, Berg wählte für den Titel seiner Oper die Schreibweise „Wozzeck“).

Während der Saison 1925/26 wurde Bergs Oper in Berlin zehnmal gespielt, in den darauffolgenden Jahren gab es mehrere Reprisen, ebenso 1929 und 1932. 1926 folgte Prag, 1927 Leningrad. Von dieser Aufführung, obwohl in modernistischer Ausstattung, war Berg sehr angetan: „Man sang den Wozzeck mit richtigem Belcanto. Ja, eine moderne Oper will ebenso schön gesungen werden wie der Troubadour. Und ebenso plastisch muß die Phrasierung sein.“ 1929 wagte sich, zum erstenmal, eine mittlere deutsche Bühne an die als unaufführbar verschrieene Oper: es war Oldenburg. Und ein Jahr später folgte Wien. Bis Ende 1936 wurde „Wozzeck“ in fünf Sprachen in 29 verschiedenen Städten insgesamt 166mal aufgeführt. Dann war Schluß bis 1945, als „Wozzeck“ einen wahren Siegeszug durch die Opernhäuser der halben Welt antrat. 1951 ist er zum erstenmal in Salzburg gespielt worden.

*

Kurz nach der Wiener Premiere wurde von der österreichischen Tabakregie eine teure Luxuszigarette angekündigt: „Heliane“, nach E. W. Korngolds Oper „Das j Wunder der Heliane“, und nach Kfeneks Welterfolg gab es die „Jonny“-Zigarette: die erstere für die Hautevolee, die zweite für das internationale Publikum. Berg wünschte sich, daß die billigste Volkszigarette „Wozzeck“ heißen sollte. Aber diesen Wunsch hat ihm bis auf den heutigen Tag die Tabakregie nicht erfüllt...

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