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Der immobile Österreicher

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Im Mai 1970 veröffentlichte das Wirtschaftsmagazin „Trend“ das Ergebnis einer Meinungsumfrage und zog folgenden Schluß: „Rund die Hälfte aller berufstätigen Österreicher wäre durch keinerlei materiellen Anreiz (Einkommenserhöhungen von hundert Prozent und mehr) dazu zu bewegen, den Beruf zu wechseln, die Stellung zu ändern oder gar zu übersiedeln.“

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Im Mai 1970 veröffentlichte das Wirtschaftsmagazin „Trend“ das Ergebnis einer Meinungsumfrage und zog folgenden Schluß: „Rund die Hälfte aller berufstätigen Österreicher wäre durch keinerlei materiellen Anreiz (Einkommenserhöhungen von hundert Prozent und mehr) dazu zu bewegen, den Beruf zu wechseln, die Stellung zu ändern oder gar zu übersiedeln.“

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Im August 1971 veröffentlichte das österreichische Statistische Zentralamt eine Untersuchung über den „Arbeitsplatz- und Berufswechsel der unselbständig Beschäftigten in Österreich“, die unter anderem mit folgenden Daten auf wartet:

• Die berufliche Mobilität hängt insbesondere von der arbeitsrechtlichen Stellung, vom Alter und von der Schulbildung ab;

• auf 100 Arbeiter entfielen 20 Fälle von Dienstgeberwechsel pro Jahr, auf 100 Angestellte 12, auf Beamte entfiel nur ein Fall;

• Beschäftigte im Alter von 20 bis 30 Jahren wechseln ihren Arbeitsplatz am häufigsten. Auf 100 Beschäftigte dieser Altersgruppe entfielen 27 Fälle von Dienstgeberwechsel pro Jahr. Bei 100 Beschäftigten im Alter von 30 bis 50 Jahren waren es nur mehr 12, bei Beschäftigten über 50 Jahre 8 Fälle jährlich;

• je höher die Schulbildung, desto seltener wird in der Regel der Arbeitsplatz gewechselt. Auf 100 unselbständig Erwerbstätige mit ausschließlicher Volksschulausbildung entfielen jährlich 19 Fälle von Dienstgeberwechsel, auf 100 Beschäftigte mit Hauptschulausbildung 16, auf 100 Maturanten 6 und auf 100 graduierte Akademiker entfielen fünf Fälle von Dienstgeberwechsel pro Jahr.

Das Ergebnis der „Trend“-Umfrage und die Daten aus der jüngsten Untersuchung des Statistischen Zentralamtes widersprechen einander augenscheinlich. Läßt sich die Äußerung zur „Trend“-Umfrage als Beweis für die in Österreich schlagwortartig behauptete „Mobilitäts- feindlicheit“ anführen, so erweckt das Ergebnis der Untersuchung über die berufliche Mobilität, die das Statisti sche Zentralamt vornahm, wiederum den Eindruck einer ungewöhnlich großen Mobilität unter den unselbständigen Erwerbstätigen in Österreich.

Vereinfachungen

Ehe hier noch der Versuch unternommen werden soll, die Ergebnisse der Mobilitäts-Studie zu kommentieren, sei auf eine Reihe methodologischer und substantieller Schwächen dieser Untersuchung hingewiesen: es werden keine Aussagen über die Mobilitätsmotive (sozialer Status, Woh nung und Wohnort, Gesundheitsniveau, Arbeitseinstellung, Einkommen und Einkommensdifferentiale sowie Konjunkturlage) getroffen. „Bildung“ und „Qualifikation“ werden gleichgesetzt; dabei bleibt unberücksichtigt, daß Bildung allein nicht repräsentativ für Qualifikation, die sich aus den Faktoren wie Begabung,

Intelligenz, Erfahrung, verschiedenen individual- oder soziopsychi- schen Fähigkeiten wie Auffassungsfähigkeit und Führungstüchtigkeit und auch Bildung zusammensetzt. Schließlich aber fehlen jegliche Aussagen über die Unterschiedlichkeit der Inter- und Intra-Mobilität in Österreich. Diese Mängel der Untersuchung lassen es ratsam erscheinen, daß das Statistische Zentralamt endlich daran geht, Sozialwissenschaftler bei der Auswertung seiner Studien zu beschäftigen.

Einige der hier aufgezeigten Mängel verleiten das Österreichische Zentralamt in einer Pressenotiz zur generalisierenden Behauptung, „je höher die Schulbildung, desto seltener wird in der Regel der Arbeitsplatz gewechselt“. In dem Artikel „Desiderata zur Arbeitsmobilitätsforschung in Österreich“ hat der Hoch schulprofessor Dr. Clement darauf hingewiesen, daß derartige Behauptungen durch Statistiken sehr leicht zu widerlegen sind: „Empirische Untersuchungen weisen darauf hin, … daß der Mobilitätsgrad sowohl bei Arbeitskräften mit höherer als auch mit niedriger Bildung im Durchschnitt ziemlich gleich ist. Ver mutlich ist das darauf zurückzuführen, daß weniger ausgebildeten Arbeitskräften zwar eine Reihe von Berufen ohne besonders langwierige Umschulung offensteht, daß aber diese Zahl von in Frage kommenden Berufsgruppen .mittlerer Qualifikation“ insgesamt nicht besonders groß ist“. Bei Arbeitskräften mit höherer Ausbildung ist entweder der Spezialisierungsgrad sehr hoch und damit die Berufsmobilität gering (bei den Medizinern beispielsweise); aber auch das Gegenteil ist möglich, da bestimmte Arten der Ausbildung eine Streuung über fast alle qualifizierten Berufe zeigen (Rechtswissenschaften, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften).

„Strukturkonservierung“

Was die Feststellung, berufliche Mobilität sei insbesondere unter den jüngsten Arbeitnehmern anzutreffen, anlangt, so widerspiegelt diese Haltung der Berufstätigen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr vor allem größere Flexibilität, Schwierigkeiten bei der Berufsfindung und sicherlich auch die Bereitschaft, den einzig verfügbaren Produktionsfaktor der unselbständig Erwerbstätigen, die Arbeit, zum besten Wirt wandern zu lassen, solange das ebenfalls altersbedingte Sicherheitsdenken, wofür die äußerst geringe Mobilität der Beschäftigten über 50 Jahre spricht, diese Neigung unterdrückt. In diesem Zusammenhang sei auf die ökonomische Bedeutung der beruflichen Mobilität hingewiesen: Die Mobilität der Produktionsfaktoren, insbesondere des Faktors Arbeit, verhindert jegliche Tendenz zur Strukturkonservierung. Mobilitätsbereitschaft ist deshalb zu begrüßen, auch wenn es im Einzelfall den Arbeitgeber ärgern mag, daß ein von ihm ausgebildeter Arbeitnehmer dorthin abwandert, wo er mehr Chancen auf eine ergiebige Nutzung seiner Arbeit hat. Eine sinnvolle und ökonomisch rationelle, aktive Arbeitsmarktpolitik kann sich nie mit einer konjunkturell angestrebten Vollbeschäftigung bescheiden, sie hat vielmehr die beständige Veränderung und Verbesserung der Wirtschaftsstruktur in Richtung auf ergiebigstes Tätigwerden zum Ziel. Diese Politik setzt freilich unter anderem voraus, daß der Mobilitätsforschung in Österreich größeres Augenmerk geschenkt wird.

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