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Der Kampf um ein Stückdien Freiheit

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Was sich derzeit in der Sowjetunion abspielt, ist wahrscheinlich das Vorspiel zu einer allgemeinen Radikalisierung des Kurses — den als erste die oppositionellen Intellektuellen zu spüren bekommen. Der zentrale Schlag der Sowjetbürokratie and Polizei richtet sich derzeit gegen den Samisdat — Rußlands verbotene Schriften- und Literaturredaktion — und gegen alle, die mit ihm zusammengearbeitet haben.

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Was sich derzeit in der Sowjetunion abspielt, ist wahrscheinlich das Vorspiel zu einer allgemeinen Radikalisierung des Kurses — den als erste die oppositionellen Intellektuellen zu spüren bekommen. Der zentrale Schlag der Sowjetbürokratie and Polizei richtet sich derzeit gegen den Samisdat — Rußlands verbotene Schriften- und Literaturredaktion — und gegen alle, die mit ihm zusammengearbeitet haben.

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Anfang der sechziger Jahre begannen vor allem literarische Werke im Samisdat zu erscheinen. Zahlreiche Memoiren aus der Zeit des Stalin-Terrors zirkulierten. Die Repressalien gegen Schriftsteller gaben einen Anlaß für Samisdat, verbotene Werke zu verbreiten. Es wird auch behauptet, daß Solschenizyns Roman „Krebsstation“ im Samisdat eine höhere Auflage erzielt habe als in manchen westlichen Ländern. Bereits Mitte der sechziger Jahre verlagerte sich allerdings der Schwerpunkt auf die Politik, obwohl weiter literarische Werke in großer Zahl erscheinen.

Die Verbreitungsweise vom Samisdat ist sehr einfach. Uberall in der Sowjetunion finden sich Gruppen, vor allem Schüler und Studenten, die die Manuskripte vervielfältigen und dazu auch die erforderlichen Ausrüstungen und Materialien organisieren; verbreitet werden sie wie Kettenbriefe. Für den westlichen Leser sei daran erinnert, daß es für den Sowjetbürger alles andere als leicht ist, eine Schreibmaschine oder ein Vervielfältigungsgerät zu erhalten. Und das nicht nur, weil sie zu den begehrten Mangelwaren gehören, sondern vor allem auch aus dem Grund, weil immer noch eine Verwaltungsanordnung aus der Stalin-Zeit in Kraft ist, wonach sämtliche in Gebrauch befindlichen Schreibmaschinen und ihre Fabrikationsnummer bei der Polizei registriert sein müssen. Da allerdings die Zahl der in Privatbesitz befindlichen Schreibmaschinen inzwischen doch recht beträchtlich ist, ist die beabsichtigte Überwachung einigermaßen schwierig. Für die Vervielfältigungsmaschinen gilt ein Gesetz von 1961, wonach nur die Polizei berechtigt ist, zu deren Erwerb und Bewahrung die Genehmigung zu erteilen. Eine solche Genehmigung erhalten daher fast nur Direktoren von Betrieben, Hochschulen und anderen Institutionen, wenn sie einen entsprechenden Antrag an die Polizei stellen und darin auch garantieren, daß mit den Geräten kein Mißbrauch getrieben wird. Offiziell kann also kein Privatmann ein Vervielfältigungsgerät besitzen. Allerdings hat sich auch hier in der Praxis einiges geändert. Das Angebot von Schreibmaschinen und Vervielfältigungsgeräten hat zugenommen, darunter an modernen elektrischen Photokopierautomaten, die meist aus Polen oder aus der DDR stammen, aber auch die amerikanische Xerox kann ihren Markt ausdehnen. Während es schon seit Jahren nicht mehr möglich ist, über den Besitz von Schreibmaschinen die Kontrolle zu behalten, bahnt sich die gleiche Entwicklung nun auch bei Vervielfältigungsgeräten an. Das ist Samisdat sehr zugute gekommen.

Seit 1968 erscheint in Samisdat die

„Chronik der laufenden Ereignisse“, die wohl berühmteste und von den Sowjets gefürchtetste Samisdat-Pu-blikation. Als einige westliche Korrespondenten in Moskau die erste Nummer bekamen, schrieben sie zu Recht: „Die erste freie russische Zeitung seit der Oktoberrevolution ist erschienen.“ Niemand wollte daran glauben, daß dieses Informationsbulletin jahrelang regelmäßig würde erscheinen können. Bis Februar 1972 erschienen 23 Nummern. Die Herausgeber der „Chronik“ betonen, daß es sich dabei keineswegs um eine antisowjetische Publikation handle, sondern, daß sie voll und ganz auf der Basis der Legalität stünden und nur durch Verstöße gegen die sozialistische Gesetzlichkeit dazu gezwungen seien, diesen Weg zu beschreiten. Die „Chronik“ bemüht sich hinsichtlich ihrer politischen Linie streng um einen neutralen Standpunkt und identifiziert sich nur mit der Bürgerrechtsbewegung Sacharows, nicht jedoch mit anderen politischen Bewegungen und Organisationen. Sie registriert Publikationen aller oppositionellen Gruppen, auch jener, mit denen sie in keiner Weise sympathisiert, wie der Faschisten und der Stalinisten. Ihr Hauptanliegen ist es, alle Verstöße gegen die Gesetze und alle außergerichtlichen Repressalien gegen Andersdenkende zu registrieren. Sie veröffentlicht regelmäßig Gedächtnisprotokolle über die wichtigsten politischen Prozesse. Ihr sind die (nicht vollständige) Liste der 670 politischen Insassen der Besse-rungs-Arbeits-Kolonien mit verschärftem Regime und die Informationen über die Situation in diesen Lagern zu verdanken. Weiterhin berichtet die „Chronik“ über alle Neuerscheinungen im Samisdat und bringt Nachrufe auf verstorbene Oppositionelle.

So sieht die „Chronik“ aus: etwa 20 bis 30 einseitig beschriebene Blätter, dünnes Durchschlagpapier, im Format rund 20 bis 30 cm. Die Blätter sind mit Maschine geschrieben. Bei Exemplaren aus oberen Durchschlägen ist der Text gut lesbar, bei unteren Durchschlägen oft schlecht. Einige Exemplare existieren in Photokopien. Uber die Zuverlässigkeit der „Chronik“ kann es keinerlei Zweifel geben. Allerdings ist einer der maßgeblichen Herausgber dei „Chronik“, der sowjetische Historiker Pjotr Jakir, im Juni 1972 verhaftet worden. Jakir brach in der Haft völlig zusammen, sein Zusammenbruch ist weder durch Drogeneinwirkung noch anderen physischen odei psychischen Druck zu erklären. Jakh offenbarte den Geheimdienstbeamten die ganze Organisationsform der „Chronik“, lieferte sämtliche Informationen über Mitarbeiter und Herstellungsweise und beschuldigte bei Gegenüberstellungen seine engster Mitarbeiter, ja sogar seine Schwester, falscher Angaben. Der Zusammenbruch Jakirs versetzte der „Chronik“ einen schweren Schlag, Eine Anzahl der Mitarbeiter wurde verhaftet, andere zum Verlassen der Sowjetunion gezwungen. So befindel sich ein Redakteur der „Chronik“, der junge Andrej Dubrow, der für Informationen aus dem religiösen Bereich zuständig war, jetzt in Wien, wo er auf das amerikanische Visum wartet.

Andere regelmäßig erscheinende Untergrundpublikationen sind „Dei ukrainische Bote“, der ähnliche Ziele wie die „Chronik“ verfolgt, sein Gebiet jedoch auf die zweitgrößte Sowjetrepublik, die Ukraine, beschränkt. Auch seine Herausgebe: betonten im Vorwort der ersten Num mer, keine antisowjetischen Ziele zu verfolgen. Die Zeitschrift informier! eingehend über alle Arten von Repressalien, über politische Prozesse und über das Schicksal der Häftlinge, veröffentlicht die Texte von Protestbriefen, Memoranden und anderen einschlägigen Dokumenten. Besonders registriert wird alles, was sich in der Ukraine auf die Nationalitätenpolitik bezieht — die durchgreifende Russifizierung, die Unterdrük-kung selbst folkloristischer Veranstaltungen und Betätigungen, die Benachteiligung von Ukrainern bei der Aufnahme in Hochschulen und bei der Besetzung von Führungsposten. Im Unterschied zur „Chronik“ veröffentlicht „Der ukrainische Bote“ auch Gedichte und andere literarische Werke von Ukrainern, die keine Druckerlaubnis erhalten haben.

Offensichtlich gibt es noch weitere Untergrundpublikationen von der Art der „Chronik“ und des „Ukrainischen Boten“. So gelangten Nachrichten über 13 Nummern einer Zeitschrift „Politisches Tagebuch“ in den Westen, die sich höchstwahrscheinlich nur an einen kleinen Kreis von Intellektuellen richtet.

Der Physiker W. N. Tschalidse, ein enger Mitarbeiter Sacharows, gab bis 1972 zwölf Sammelbände unter dem Titel „Gesellschaftliche Probleme“ heraus, die sich mit den Menschenrechten und der Rechtspflege befassen. In jedem Band war Tscha-lidses Name genannt und seine Moskauer Telephonnummer 241-79-32 angegeben. Als sich Tschalidse Anfang 1973 auf einem wissenschaftlichen Kongreß in New York befand, wurde ihm die sowjetische Staatsbürgerschaft aberkannt. Er lebt seitdem in New York.

Eine regelmäßig erscheinende Sa-misdat-Publikation ist „Exodus“ mit sorgfältig und detailliert zusammengestellten Informationen über Prozesse und andere Repressalien gegen Juden, über die Schwierigkeiten, die den Auswanderern gemacht werden. Eingehend berichtet „Exodus“ über Protestaktionen gegen verschiedene Behörden, veröffentlicht Briefe, Memoranden und andere Dokumente. Auch „Exodus“ definiert sich nicht als antisowjetisch, sondern als eine Publikation, die unter Beachtung der in der Sowjetunion geltenden Gesetze die Menschenrechte der sowjetischen Juden verteidigt. Behauptungen, es handle sich um eine zionistische Publikation, sind falsch. Unter den Auswanderungswilligen sind auch viele Juden, die sich vom Zionismus distanzieren.

Betrachtet man alle hier erwähnten regelmäßig erscheinenden Veröffentlichungen des Samisdat. dann kann man es als seine erste Aufgabe bezeichnen, über die eigene Gesellschaft zu informieren und deren einzelne Bereiche kritisch zu untersuchen. Die sowjetische Gesellschaft — darunter sind die einzelnen Nationen und die in Entwicklung befindlichen sozialen Gruppen zu verstehen — befindet sich im Ubergangsprozeß von einer isolierten zu einer informierten Gesellschaft, in einer heiklen und schwierigen Phase also, die Probleme aufwirft, die im Westen keine Parallele haben. Die Entwicklung unter Stalins despotischem Herrschaftssystem führte zur Isolation — einem ganz bewußt anvisierten Zie der damaligen Führung. Für dieses Ziel wurden alle erdenklichen repressiven Maßnahmen in Gang gesetzt, Sie reichten von einfacher Zensur bis hin zu Verhaftungen und Liquidierungen. In den fünfziger Jahren wurde dann immer klarer, daß die Isolation nicht länger aufrechtzuerhalten war, denn es bildeten sich ständig neue Informationskanäle heraus. Auf der anderen Seite erhebt die Partei nach wie vor den Anspruch auf vollständige Kontrolle und Manipulation des Verhaltens, sowie des Bewußtseins der Öffentlichkeit. Sie greift dabei zu den traditionellen Kontrollinstrumenten der Zensur, einer Überwachung der ausländischen Zeitschriftenabonnements — die von den westlichen kommunistischen Parteien herausgegebenen Publikationen und die reinen Fachzeitschriften nicht ausgenommen — und führt weiterhin einen „Index“ verbotener Literatur. Dem Biologen Shores Medwedew, der wegen seiner Aktivitäten in einer psychiatrischen Spezialklinik für politische Oppositionelle inhaftiert war und heute in London lebt, verdanken es die sowjetischen Wissenschaftler, daß die Öffentlichkeit über diese Probleme informiert und damit auch eine Grundlage für eine eingehende Diskussion geschaffen wurde. Seine Arbeit „Die internationale Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und nationale Grenzen. Das Briefgeheimnis ist garantiert“ wurde auch im Westen bekannt.

Samisdat erfüllt also die wichtige Funktion eines Informationsmediums mit doppelter Aufgabe, und zwar bezüglich der eigenen Gesellschaft und ihrer Schwächen, zum andern bezüglich des „Draußen“. Beide an sich legitimen und nützlichen Aufgaben sind in den Augen der Parteibürokratie jedoch Verstöße, die eine „antisowjetische Gesinnung“ beweisen. Auch das, wofür sich heute ein hochqualifizierter Wissenschaftler von Berufs wegen interessiert, muß ihm erst parteiamtlich „genehmigt“ werden.

Hauptansatzpunkt für die Kritik der Oppositionellen ist der Herrschaftsstil der Partei mit seinen Unterdrückungsmechanismen gegen alle Andersdenk 'en.

Übereinstimmung und Akklama-

■ tion zu erreichen, dieses Ziel wird l mit allen erlaubten und unerlaubten ; Methoden verfolgt. General a. D. • Grigorenko, ein bekannter Bürger-

■ rechtskämpf er, der sich vor allem für

. rHp Rprht.p Hpr vprtriphpnprt Krimtataren einsetzte, schrieb in einem Brief an den Vorsitzenden des Geheimdienstes, Andropow: „Aus dem Marxismus-Leninismus folgt, daß eine solche .Einmütigkeit' des Volkes eine offensichtliche Abnormität, eine pathologische Erscheinung in der Entwicklung des gesellschaftlichen Organismus darstellt. Dieser ist schwer krank. In ihm herrschen keine normalen Bedingungen für einen Kampf der Meinungen, folglich auch nicht für die Entwicklung der Gesellschaft. Die Diagnose kann nur lauten: eine veraltete schwere Form von Totalitarismus.“

Die Leistungen, die die Herausgeber politischer Samisdat-Publikatio-nen vollbracht haben, sind eindrucksvoll. Ein Bürger der Sowjetunion, der sich entschließt, aktiv in der Oppositionsbewegung mitzuarbeiten, riskiert seinen Arbeitsplatz und seine Karriere, setzt sich in vollem Bewußtsein vielfältigen Uber-wachungs- und Unterdrückungsmaßnahmen aus; Verbannung, Arbeitslager, Gefahr für seine körperliche und geistige Gesundheit drohen ihm, bei Ausweisung verliert er sein Vaterland, seine Familie und seine Freunde.

Die moralische Kraft, die eine solche Handlungsweise erfordert, beeindruckt um so mehr, als sie — gemessen an den angestrebten Zielen — so gut wie sinnlos ist. Denn selbst wenn die Auflage einer Untergrundzeit-schrift einige hundert Stück beträgt, was schon sehr viel ist, so bedeutet das, daß sie von einigen tausend Menschen gelesen wird, von einem verschwindend kleinen Prozentsatz also, der noch dazu von vornherein schon mit den Oppositionellen sympathisiert. Der überwiegende Teil der Bevölkerung kennt Samisdat, wenn überhaupt, denn nur vom Hörensagen und steht ihm desinteressiert und feindlich gegenüber. Der Kampf, den die Herausgeber von Samisdat gegen das Regime führen, findet unter sehr ungleichen Bedingungen statt und ist dementsprechend aufreibend. Auch war der Schlag, den die sowjetische Administration irr1 letzten Jahr gegen die „Chronik“ und deren Herausgeber Jakir führte, sehr schmerzhaft, er zerschlug einen harten Kern, um den sich weitgefächerte Aktivitäten von Samisdat gesammelt hatten. Die neue Taktik der Sowjets, unbequeme Oppositionelle unter diversen Vorwänden ins Ausland abzuschieben, zielt ebenfalls auf Schwächung der Bewegung. Dennoch is'„ heute sowohl die technische wie auch die moralische Basis der Opposition so breit, daß diese ihren mühevollen und harten, aber notwendigen Kampf um die Rechte des autonomen Individuums zweifellos fortsetzen wird.

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