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Der Klang vom Hügel

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Im Frühling 1972 verschied Else Wohlgemuth, eine der bedeutendsten Darstellerinnen des Wiener Burgtheaters, fast ein halbes Jahr nach ihrem 91. Geburtstag. Trotz dieses wahrhaft biblischen Alters kam die Nachricht für ihre Freunde schmerzlich überraschend, denn außer der Last der Jahre selbst war sie bis wenige Wochen vor ihrem Tod ohne Beschwerden. — Die jüngere Generation des Burgtheaterpublikums hat wohl ihr Porträt als Orsina in „Emilia Galotti“ in der Galerie des Theaters gesehen, sie und ihre Kunst aber nicht mehr erlebt. Kam sie doch 1910 nach Wien, in einer Zeit, die uns unendlich fern zu liegen scheint, in einer Epoche allerdings, die für ein aufstrebendes Talent besondere Entfaltungsmöglichkeiten bot.

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Im Frühling 1972 verschied Else Wohlgemuth, eine der bedeutendsten Darstellerinnen des Wiener Burgtheaters, fast ein halbes Jahr nach ihrem 91. Geburtstag. Trotz dieses wahrhaft biblischen Alters kam die Nachricht für ihre Freunde schmerzlich überraschend, denn außer der Last der Jahre selbst war sie bis wenige Wochen vor ihrem Tod ohne Beschwerden. — Die jüngere Generation des Burgtheaterpublikums hat wohl ihr Porträt als Orsina in „Emilia Galotti“ in der Galerie des Theaters gesehen, sie und ihre Kunst aber nicht mehr erlebt. Kam sie doch 1910 nach Wien, in einer Zeit, die uns unendlich fern zu liegen scheint, in einer Epoche allerdings, die für ein aufstrebendes Talent besondere Entfaltungsmöglichkeiten bot.

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Die strenge, vor allem der eigentlichen Wortkunst verpflichtete Tradition Laubes galt immer noch in der „Burg“, aber sie war aufgelockert durch Naturalismus und Neuromantik. Ganz im Gegensatz zu dem immer wiederkehrenden journalistischen Klischee von dem „Abendrot“ des alten Österreich hatte gerade damals die Staats- und Reichsidee sehr kräftige Lebenszeichen gegeben — und die Geltung des Hoftheaters, das immer noch als die erste deutschsprachige Bühne galt, war fest begründet und unbestritten.

Else Wohlgemuth, von Direktor Schienther noch kurz vor seinem Rücktritt engagiert, erregte zunächst mehr Aufmerksamkeit durch ihre ganz ungewöhnliche Schönheit und die natürliche Anmut ihrer Gebärde als durch ihre Darstellung, für die sich noch wenige Hauptrollen fanden. Erst am 24. November 1910 machte ihre Darstellung der Helene von Valois in Schnitzlers „Der junge Medardus“ tiefen Eindruck auf Publikum und Kritik — die Charakterisierung dieses dämonischen und anmutigen Machtweibes erwies volle künstlerische Reife und steht am Beginn eines steilen Aufstiegs, der von den politischen und gesellschaftlichen Erschütterungen der folgenden Jahre und Jahrzehnte durchaus unberührt blieb.

Else Wohlgemuths Wirken hat viel dazu beigetragen, das Burgtheater als Stätte einer ungebrochenen darstellerischen Tradition zu erhalten. Mitten hineingestellt in eine Trias großer und eigenartiger Darstellerinnen — die beiden anderen waren Hedwig Bleibtreu und Lotto Medelsky —, verkörperte die Wohlgemuth in idealer und zugleich durchaus freier und beweglicher Art den Typ der „heroischen Liebhaberin“ — unterstützt nicht nur durch ihre adelige Erscheinung, sondern auch durch ein klangvoll-sanftes Organ und eine vornehm-zurückhaltende, aber ausdrucksvolle Gebärdensprache. Naturgemäß standen sogenannte klassische Rollen im Vordergrund ihrer Wirksamkeit.

An erster Stelle müssen wir ihrer Maria Stuart gedenken. Die Schot-tenkönigin war eine ihrer ersten Rollen am Burgtheater — sie hat sie sehr lange gespielt und die Läuterung dieses so vielschichtigen Charakters immer schöner und klarer sichtbar gemacht, ohne über der Vielseitigkeit der einzelnen Szenen, die sie virtuos vorführte, je den Faden zu verlieren. Es ist sehr fraglich, ob Schiller selbst diese passive und doch so wirkungsvolle Gestalt je so vollendet gesehen hat.

Einen überraschenden Eindruck machte ihre Iphigenie. Hatte vorher Hedwig Bleibtreu gleichsam eine griechische Statue gestaltet, so war die Priesterin der Wohlgemuth weit gefühlsstärker, ihre Menschenliebe war nicht Idee, sondern tiefe Empfindung und seit langem zum erstenmal erschien das verhaltene Liebesgefühl des Thoas als menschliche Beziehung, nicht als dramatisches Vehikel.

Die andere beherrschende Frauengestalt bei Goethe, die Leonore von Este in „Tasso“, kann hier nur angeführt werden, weil es einfach unmöglich ist, dieses hauchzarte Charakterbild, diese zur höchsten Vollendung gediehene Sprechkultur zu würdigen.

Ein herrliches Gemälde farbenreicher, lebensvoller Charakterisierungskunst und hinreißender Sprachmelodik war die Sappho die-

ser Interpretin. Daß auch sie es nicht vermochte, dieses Werk zum echten Repertoirestück zu machen, ist wohl der Preis, den der Dramatiker Grillparzer für seine besonders tiefe, für manche allzu tiefe Seelenkenntnis immer noch zahlen muß.

Natürlich beschränkte sich die Künstlerin nicht auf dieses Fach. Sie gehörte eigentlich keiner „Schule“ an, war nicht auf einen bestimmten Stil festgelegt und vermochte daher auch im „Salonfach“ stark zu wirken. Wer sie bisher nur in ihren klassisch-heroischen Rollen gesehen hatte, war gewiß überrascht von der eleganten Sicherheit und dem sanften, aber recht trockenen insularen Humor ihrer Candida in Shaws

gleich benannter Komödie oder der Lady Cicely in des gleichen Autors „Kapitän Brassbounds Bekehrung.“

Aber selbst Charaktere, die den Spannungszustand unserer modernen Welt widerspiegeln und die gewiß nicht auf dem Wege dieses klaren, der großen Linie verschriebenen Talents lagen, vermochte die Wohlgemuth überzeugend darzustellen. Wir können hier nur die Anna in „Liebe“ von Anton Wildgans und die Bürgermeisterin in „Die schwarze Maske“ von Gerhart Hauptmann nennen.

In weitem Abstand aber von allen ihren sonstigen Leistungen steht die heilige Elisabeth in „Die Landgräfln von Thüringen“ von Josef Wenter. Auch hier versagt eigentlich jeder Versuch der Schilderung, denn die Künstlerin drang hier derart echt und glaubhaft in das Phänomen der Heiligkeit ein, daß es kein Beobachten und Beurteilen mehr gab, sondern nur ein im buchstäblichen Sinn ergriffenes Mitgehen und Mitleben.

Dieser Uberblick über Else Wohlgemuths Lebenswerk muß unvollständig sein — auch auf so große Leistungen wie die Rhodope und die Brunhilde Hebbels oder die Orsina in Lessings „Emilia Galotti“ können wir nur kurz hindeuten. Die „Landgräfin von Thüringen“ wurde 1937 aufgeführt — nur Monate vor dem März 1938, der auch dem Wirken der Wohlgemuth ein vorläufiges Ende setzte. Wir wenden uns daher jetzt ihrem persönlichen Leben zu. ★

Am 1. Jänner 1881 in Berlin geboren, verbrachte sie einige Jahre ihrer Kindheit in den Vereinigten Staaten (Chikago und St. Louis), dachte an eine Laufbahn als Tänzerin, wurde aber auf den Rat einer älteren, im komischen Schauspielfach erfolgreich tätigen Schwester Schülerin der bekannten Berliner Hofschauspielerin Adele Wienrich und später des Hofschauspielers Oskar Keßler. 1902 wurde sie von der Schauspielschule weg als Elevin des Königlichen Theaters engagiert und mußte zwei Jahre lang kleine, meist stumme Rollen geben. Die Verfasserin eines Weihnach'tsspieles für Kinder, eine Frau von Seil, bemerkte ihren starken Ausdruck bei der Darstellung eines Engels und machte den Intendanten des großherzoglich

mecklenburgischen Hoftheaters in Schwerin auf sie aufmerksam.

An dieser kleinen, aber ehrgeizigen, von einem auf Kulturpflege angewiesenen kleinen Fürstenhof verwöhnten Bühne erlebte die junge Darstellerin ihre ersten großen Erfolge als Maria Stuart, als Jungfrau von Orleans, die sie in Wien leider nicht mehr gespielt hat und als Trägerin der vielgestaltigen Frauenrolle in Adolf Wilbrandts „Meister von Palmyra“. Noch weit mehr aber sollte ihr die Begegnung mit dem Autor dieses Dramas, mit Wilbrandt, bedeuten. Dieser ein wenig ausdrucksschwache, aber überaus feinfühlige Poet und Theatermann faßte eine schwärmerische Neigung für die junge, schöne Schauspielerin und erzog sie für das Burgtheater, das er als das einzig erstrebenswerte Ziel für diese große und reiche Begabung erkannte. Er vermittelte dann das Engagement seines Schützlings nach Wien — ein Erfolg, für den wir dem 1912 Verstorbenen wahrlich

noch heute dankbar sein müssen. Denn zwischen der Wohlgemuth und ihrem Publikum entstand bald ein Verhältnis, das man nur als zärtliche Pietät bezeichnen kann. Als man wahrnahm, daß diese klassisch schöne Frau eine vollkommene Dame und ein gütiger, stets liebenswürdiger Mensch war, um den es weder lautes Berufsgezänk noch Skandale gab, begegnete ihr nicht nur die schwärmerische Anhänglichkeit einer verschworenen Gemeinschaft junger Mädchen, auch die Verehrung vieler theätererfahrener älterer Wiener. Spannungen mit einem Teile der journalistischen Kritik waren selten und nur von kurzer Dauer.

Als die Künstlerin nach Wien kam, war sie noch unverheiratet und vermählte sich erst am 30. April 1918 mit dem k. u. k. Linienschiffsleutnant Emmerich Graf Thun-Hohenstein, mit dem sie in einer sehr harmonischen, wenn auch kinderlosen Ehe lebte, bis ihn der Tod am 25. Oktober 3957 im Alter von 81 Jahren abrief. Die Heirat hing wohl zusammen mit dem Eintritt dieser deutschen Schauspielerin in den österreichischen Lebenskreis und vor allem mit dem Übertritt zur katholischen Kirche, der die Künstlerin mit tiefer Überzeugung anhing. Ihre Darstellung gewann dadurch eine Tiefe und einen missionarischen Ernst, der wohl nicht von allen verstanden, aber von allen gefühlt wurde.

*

Der Erfolg und die Liebe ihres Publikums sind der Wohlgemut bis zum März 1938 treu geblieben. Dann aber kamen schwere Zeiten. Nachdem sie noch am 20. März 1938 aufgetreten war, wurde sie, da ihre Abstammung den Rassengesetzen des Regimes nicht entsprach, fristlos und formlos entlassen, man versuchte ihr die Pension vorzuenthalten, die sie erst erhielt, als italienische Stellen für sie intervenierten, da Graf Thun durch den Frieden von St. Germain italienischer Staatsbürger ge-

worden war. Es gab in der Folge einige Versuche, sie aus ihrer Wohnung zu verdrängen, es kamen die Entbehrungen und Schrecken der Kriegszeit und die Sorge um viele Freunde und Bekannte in Gefahr. Aber ihre Gemeinde hat auch in dieser aus den Fugen geratenen Zeit zu ihr gehalten und dadurch wahrscheinlich ernstere Gefahren abgewendet.

In den Apriltagen 1945 war Else Wohlgemuth zutiefst erschütterte Zeugin wilder Exzesse in den geräumigen Kellern ihres Wohnhauses in der Argentinierstraße. Aber schon der 1. Mai brachte ihre förmliche Reaktivierung und am 14. Dezember 1945 stand sie in einem leider nicht sehr gelungenen Stück einer ungarischen Autorin wieder auf der Bühne des Akademietheäters. Ihr erster Auftritt wurde mit stürmischem Jubel gefeiert, zum Erstaunen zahlreicher anwesender Offiziere der Besatzungsmächte. Freilich boten ihr die beengten Theaterverhältnisse der ersten Nachkriegszeit nicht mehr viel Betätigungsmöglichkeit. Immerhin konnten wir sie noch als Donna Honoria im „Seidenen Schuh“ von Claudel und als Herzogin von Friedland in Schillers „Wallenstein“ erleben, ehe sie sich diskret, ohne förmlichen Abschied, zurückzog — immer noch geehrter und geliebter Mittelpunkt eines Freundeskreises.

Wer sie näher gekannt hat, erinnert sich jetzt eines Charakters von stiller Vornehmheit, damenhaft freundlich, mit den Jahren immer geduldiger mit den Schwächen und Irrtümern der Menschen, streng nur noch gegen sich selbst und getragen von einer tiefen, selbstverständlichen Gläubigkeit. Sie war nicht eigentlich intellektuell, aber gebildet durch Beruf und Umgebung, sehr ausdrucksfähig auch in Wort und Schrift und bei aller Gefühlstiefe von einer gewissen nüchternen Klugheit. Der Glanz ihres Wesens leuchtete uns auch noch in den letzten Jahren, und niemand ist da, der sie uns ersetzen könnte.

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