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Der klare Blick des Stefan Zweig

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Er beschrieb die Welt von gestern, er war überzeugt von der Existenz einer Welt des Geistes, und er fühlte sich als Hüter des europäischen Erbes. Stefan Zweig, der vor 50 Jahren in Brasilien im Exil Selbstmord beging, wurde in den letzten Tagen oft gewürdigt. „Klar sehen und doch nicht verzweifeln" wollte er. 1939 äußerte er diesen Wunsch in einem Brief an Felix Braun. Und den Schriftsteller-Kollegen Joseph Roth forderte er auf, nicht hart zu werden, in der Bitterkeit des Exils.

Stefan Zweig sah klar und verzweifelte schließlich doch. Manchmal ist man verwundert über die Klarsicht dieses Autors. Schon 1925 fühlte er „ein leises Grauen" vor der „Monotonisie-rung der Welt". Alles werde gleichförmiger und nivellierter, fand Zweig und er ortete „eine Verkümmerung der Nerven zugunsten des Typus".

Europa würde zu einer Kolonie Amerikas, klagte der Schriftsteller und er sprach von der Knechtschaft der maschinellen Idee, die dem Europäischen zutiefst fremd sei. Die wahre Gefahr für Europa sei die amerikanische Langeweile, meinte Zweig, eine Langeweile, die „fahrig, nervös und aggressiv" sei. Und er forderte auf zur Flucht, zur Flucht in uns selbst: „Man kann nicht das Individuelle in der Welt retten, maakann nur das Individuum verteidigen in sich selbst."

Ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkrieges schrieb Zweig einen Essay über „Die Tragik der Vergeßlichkeit". Das Vergessen als ein Ausweichen vor der Wahrheit, gewaltsames Vergessen, um Fortschritte der Erkenntnis aufzugeben und zurück zu flüchten „in den alten, wilderen, aber gleichzeitig wärmeren Wahn".

„Sanftes Reisen" wird heute als Alternative zum sich überschlagenden Tourismus-Wahn gefordert. Stefan Zweig machte schon 1926 den Unterschied zwischen Reisen und Gereist-Werden und erkannte „mehr Gefahr als Gewinn" in der verbesserten „Mechanik des Reisens". Ist seine Meinung wirklich so antiquiert, daß alles Wesentliche im Leben, alles, was wir Gewinn nennen, aus Mühe und Widerstand wächst?

„Klar sehen und doch nicht verzweifeln." 1924 sah er das Ende einer edlen und kostbaren Kunst voraus: der Kunst des Briefes, die durch Zeitung, Schreibmaschine und Telefon vernichtet werde. Stefan Zweig glaubte an die Menschheit und wurde deswegen von Joseph Roth kritisiert und belächelt. Er glaubte auch an Europa. „Wird Europa seine Selbstzerstörung fortsetzen oder wird es eins werden?" das fragte Stefan Zweig 1932 bei einem Vortrag 1h Florenz.

Die Frage hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

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