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Der kleine Dreyfus

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Die III. französische Republik weist viele dramatische Höhepunkte auf. Mit einer einzigen Stimme Mehrheit geschaffen, ging sie im Toben des Zweiten Weltkrieges ruhmlos zu Ende. Trotzdem nimmt sie in der .Geschichte der Nation einen bedeutenden Platz ein: Sie ist verbunden mit dem Namen Verdun, der Schaffung des damals zweitgrößten Kolonialreichs der Erde, sowie der leidvollen Trennung von Kirche und Staat. Aber kein Ereignis markierte die Gesellschaftsordnung nach 1871 derartig .wie die Affäre Dreyfus.

Es war bis heute nicht möglich, einen französischen Film darüber zu drehen oder ein Buch zu schreiben, um die Elemente dieser Staatskrise in objektiver Distanz zu durchleuchten. Damals standen sich zwei Konzepte gegenüber: der jüdische Hauptmann Dreyfus, der an Hand gefälschter Dokumente der Militärjustiz des Hochverrats zugunsten des Deutschen Reichs angeklagt war, rückte immer mehr in den Hintergrund. Auf der einen Seite waren die traditionellen Kräfte des Landes, das Großbürgertum, die Armee und der mittlere und höhere Klerus. Dem gegenüber stellten sich die zukunftsträchtigen Mächte des 20. Jahrhunderts auf: der Liberalismus, der Sozialismus und auch die Anfänge der christlichen Demokratie. Die Grenzlinie teilte oft Familien und sogar die großen französischen Geister traten in diesen Kampf ein, der jeden in Bann schlägt, der sich mit dieser Zeitepoche auseinandersetzt.

Nur zu oft wurden 1972 und besonders in den Ostertagen 1973 die Manen des unglücklichen Hauptmanns beschworen, als es neuerlich um die Schuld oder Unschuld eines Mannes ging. Dieser weist zwar keinerlei Ähnlichkeiten mit dem seinerzeit angeklagten Offizier auf, drohte

aber ebenfalls im Räderwerk der Justiz zu enden. Wiederum wurden die Leidenschaften angeheizt und stehen sich zwei Visionen der Justiz und der Gesellschaft diametral entgegen.

Durch die Ermordung von Brigitte Dewevre, einer 16jährigen Minenarbeiterstochter im Städtchen Bruay-en-Artois, wurden Probleme aufgeworfen, die seit Mai 1968 unter der Oberfläche schwelten und nun nicht mehr eskamotiert werden können. Der Mai/Juni 1968 stellte zahlreiche, teilweise aus der napoleonischen Zeit stammende Einrichtungen in Frage und forderte grundlegende, strukturelle Reformen. Von diesem ausgelösten Sog wurden Universitäten, Gewerkschaften, Mittelschulen, konfessionelle Organisationen und selbst die Kirche erfaßt. Nur die Justiz und alles, was mit ihr zusammenhängt, blieb dabei unberührt. Ob es sich um den Strafvollzug oder die Untersucbungsmethoden handelt, die Organisierung von Hauptverhand-

lungen an den Geschworenengerichten, sie alle schöpfen aus einem feu-dalistiisch-ruralen System, das mit der Gegenwart nichts mehr gemein hat.

Die Sitten haben sich geändert. Im Zusammenhang mit der industriellen und wirtschaftlichen Entwicklung entstanden neue Straftaten. Bisherige, zum Teil mit dem Todesurteil belegte Verbrechen wurden plötzlich zu einer Selbstverständlichkeit unserer Tage deklariert. Trotz ständiger Krisen und Fehlleistungen war die französische Justiz nicht bereit, die notwendigen Reformen im eigenen Rahmen durchzuführen. Seit dem Mordfall in Bruay legen sich allerdings Richter und Staats-

anwälte wie die hohen Funktionäre im Justizministerium die Frage vor, ob es nicht endlich an der Zeit sei, einige Tabus zu brechen, die Vorstellungen des vergangenen Jahrhunderts über Bord zu werfen und Methoden einer den moralischen und soziologischen Bedingungen der siebziger Jahre entsprechenden Rechtssprechung zu finden.

„Volksjustiz“

Es gehörte zu einer geheiligten Uberlieferung, daß sich die Untersuchungen der Polizei und des Gerichts hinter dem Vorhang des Schweigens und der Geheimnisse abspielten. Heute macht der einmalige Einfluß der Massenmedien und vor

allem des Fernsehens eine Diskretion bei kriminellen Enqueten vollkommen illusorisch. Der mit der Untersuchung in Bruay beauftragte Richter Pascal zog mit Virtuosität sämtliche Register von Presse, Rundfunk und Mattscheibe. Dadurch nahm ein an sich lokales Ereignis höchst nationale Dimensionen an und wurde in Marseille ebenso besprochen wie auf den Bauernhöfen der Bretagne und der Normandie.

Pascal wollte die Sache vor aller Öffentlichkeit durchführen. Er gab fast jede Woche ein Interview und programmierte die Normen einer Volksjustiz, mit anderen Worten: Jeder Bürger soll gleichzeitig Ankläger und Richter sein. Sein Vorgehen zeigte sich aber sehr problematisch. Plötzlich fühlten sich nicht nur die Bewohner von Bruay, sondern auch die Bürger von ganz Frankreich berufen, über den verdächtigten Notar Pierre Leroy zu urteilen. Dieser saß monatelang in Untersuchungshaft, wobei man ihm nicht das geringste nachweisen konnte.

Bisher hatte ein französischer Untersuchungsrichter fast unbegrenzte Vollmachten und konnte jeden — wie es im Pachjargon heißt — gemäß seiner „intimsten Überzeugung“ verhaften und monatelang im Gefängnis sitzen lassen, ohne über ausreichende Schuldbeweise zu verfügen. Schon Balzac ironisierte, der mächtigste Mann in Frankreich sei zweifelsohne der Untersuchungsrichter. Diese Feststellung des großen Dichters bewahrheitete sich im Fall Leroy. Die Staatsanwaltschaft forderte mehrfach seine Entlassung, denn der Richter hatte keine wie immer gearteten Hinweise, daß es sich um den Mörder handle. Pascal weigerte sich hartnäckig, dem Verdächtigten die Freiheit wieder zu geben. Um ganz sicher zu gehen, ließ er auch Monique Mayeur, die Verlobte des Notars, verhaften.

Diese Machtvollkommenheiten des Untersuchungsrichters, der bis vor kurzem niemandem verantwortlich war, werden — ob man will oder nicht — eine Revidierung, erfahren müssen. Richter Pascal hat sich, und sämtliche Zeugnisse stimmen darin überein, in eine Hypothese verrannt und war nicht mehr in der Lage oder hatte wohl auch nicht den Mut dazu, seinen Irrtum öffentlich einzugestehen. Durch eine diskrete Intervention des Elysee-Palastes wurde ihm der Akt entzogen und einem neuen Untersuchungsrichter anvertraut. Der wahre Mörder sitzt nun seit dem 19. April 1973 hinter Schloß und Riegel. Es ist ein 17jähriger Junge. Aber der Haß der Bewohner von Bruay gegen den Bourgeois Leroy ist weiterhin ungebrochen.

Weitere Symptome eines echten Rechtsverfalls erscheinen ebenfalls bedenklich. Die extreme Linke spielte die Affäre unendlich hoch und wollte sie in das Konzept des Klassenkampfs einfügen: Hier der begüterte Bourgeois, dem nichts anderes einfällt, als eine Arbeitertochter umzubringen, dort die ergrauten Minenarbeiter, die ein Volkstribunal fordern und nach Selbstjustiz schreien. Die Kommentare in dem von Jean-Paul Sartre redigierten Blatt „La Cause du Pv ple“ vom Mai

1972 klingen beruhigend. Dort wird allen Ernstes vorgeschlagen, Notar Leroy mit einem Rasiermesser jfi kleine Stücke zu zerschneiden oder ihn an ein mit 100 km pro Stunde fahrendes Auto zu binden. Das Argument lautete: „Der Schuldige an Brigittes Tod ist das Bürgertum, denn die Leroy-Bande ist mit der Bourgeoisie gleichzusetzen.“ Da Notar Leroy dem Rotary-Club angehörte, reihte die extreme Linke alle Mitglieder dieser Organisation in die Kategorie der Mädchenschänder ein.

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