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Der Kleine wird untreu

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Die ewige Freundschaft zwischen der DDR und der UdSSR ist durch die Perestrojka belastet. Die Geschichte macht aber keinen Bogen um die DDR. Es gärt im Inneren.

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Die ewige Freundschaft zwischen der DDR und der UdSSR ist durch die Perestrojka belastet. Die Geschichte macht aber keinen Bogen um die DDR. Es gärt im Inneren.

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„Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“, „Die Freundschaft mit der Sowjetunion ist unverbrüchlich.“ Jahrzehntelang schmückten Transparente mit solchen und ähnlichen Parolen öffentliche Gebäude und Werkstore in der Deutschen Demokratischen Republik.

Mit Perestrojka und Glasnost in der UdSSR verschwanden schrittweise die Siegesparolen aus der Öffentlichkeit, da sie keinen massenpolitischen Effekt mehr erzielten. Bei den meisten SED-Leuten trat Ratlosigkeit auf, und diese hat man bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht überwunden.

Aber Treuebezeugungen gegenüber dem „großen Bruder“ konnte man, wollte man die Massen nicht noch weiter verunsichern, nicht einfach fallenlassen. Denken wir nur an die euphorischen Erklärungen Erich Honeckers in Moskau, der Umwandlungsprozeß gehe alle an, auch die DDR. Leider vergaß Honecker, daß der nunmehr greise und äußerst unbeliebte SED-Chefideologe Hager im SED-Zentralorgan „Neu-*es Deutschland“ davon gesprochen hatte, daß es „nicht immer erforderlich sei, auch die eigene Wohnung zu tapezieren, wenn der Nachbar seine Wohnung renoviert“. Beim jüngsten ZK-Plenum hat sich Honecker auch schon vom „bürgerlichen Gequake“ aus der UdSSR distanziert.

Dabei ist das Gebäude der DDR in den letzten Monaten immer baufälliger geworden, in der DDR-Öffentlichkeit herrscht Betroffenheit. Reformen sind dringend notwendig, Reformen an den Gesamtstrukturen des Staatsge-füges. Ein erster Schritt wären personelle Veränderungen im Politbüro der SED, dem die gesamte Entscheidungsbefugnis über das Leben in der DDR obliegt. 80 Prozent aller Politbüromitglieder — einschließlich Honeckers — haben das 70. Lebensjahr überschritten. Sie stammen noch aus der Ulbricht-Ära, ein Umdenken ist bei ihnen nicht mehr möglich.

Die Massen sind unzufrieden, Lethargie und Niedergeschlagenheit breiten sich aus. Hauptursache sind die Versorgungsschwierigkeiten, Materialknappheit in den Betrieben. Sogar die vom SED-Wirtschaftsboß Günter Mittag geschaffenen Kombinate, die als Musterbeispiel für sozialistische Staaten galten, haben heute Planschulden. Die Massenmedien strotzen aber von Berichten über „überwältigende Erfolge“ der DDR-Wirtschaft. Eine Informationspolitik, die im totalen Widerspruch zur Alltagserfahrung steht. Die Läden sind leer, und die Korruption - gerade im Binnenhandel -blüht.

Die Läden werden auch nicht voller durch sogenannte stabilisierende Maßnahmen des Binnenmarktes der benachbarten CSSR, die am 15. November verschärfte Zollbestimmungen für ausländische Bürger — speziell aus der DDR, aus Polen und Ungarn - erließ. Zwei Tage danach reagierte die DDR-Regierung. prompt mit Gegenmaßnahmen.

Die Folgen dieser Sanktionen sind für das Verhältnis beider Völker schwer. In den Grenzgebieten auf beiden Seiten macht sich schon Ausländerfeindlichkeit breit. Es ist keine Seltenheit, daß diensteifrige Verkäuferinnen Bürgern aus der CSSR Wurst oder Fleisch nur noch für den Tagesbedarf verkaufen oder Schuhe aus dem Einkaufskorb mit dem Hinweis entfernen, Waren dieser Art seien für eine Ausfuhr in die CSSR gesperrt. In Decin können umgekehrt DDR-Bürger kaum mehr einkaufen, da praktisch alle Konsumgüter auf der Verbotsliste stehen.

Die Parteibonzen glauben aber, die Geschichte mache um die DDR einen großen Bogen. Aber es gärt auch in der DDR. Die alte Garde ist kaum bereit, Fehler einzugestehen. So orientiert man sich außenpolitisch an Partnern, die konträr zur UdSSR stehen — wie Rumänien.

Aber wie oft haben die Deutschen schon auf das falsche Pferd gesetzt?

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