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Der Körper baut sich einen Geist

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In sogenannten alternativen Zei -tungen gibt es eine Rubrik „ Kör­per/Seele", die sich, auf die Über­schriften beschränkt, ungefähr so liest: „Yoga, Eutonie, Bewußtheit durch Bewegung, Polarity, Gestalt­therapie, Stimmworkshop, Atem­workshop, Rebirthing, Vivation, Bioenergetik, Movement Ritual, Chinesische Bewegungskünste -Taijiquan, Qigong, Wushu, Arbeit am Kraftkörper, Aike-Körperer-fahrung, Kranichübung..." die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Die Vielfalt dieser Körper-Seele-Praktiken ist in den letzten Jahren derart groß geworden, daß man sich fragen muß, wohin diese leichtsinnige Ausbeutung der Lebenskraft führen soll.

Die Erkenntnis, daß Körper und Seele eins sind und daß in jedem einzelnen Menschen die ganze Schöpfung enthalten ist, sind die Grundlagen dieser Bewegung. Der Körper hat und kann und weiß demzufolge alles. Man braucht sich nur auf ihn zurückzuziehen und sich eine oder mehrere der angebo­tenen Techniken zunutze zu ma­chen, um „das Leben zu haben und es in Fülle zu haben."

Es ist eine Bewegung, bei der man dabei ist oder von der man nichts weiß - oder zu der man sich stellt, wie zu einem Tabu. Von der Gesell­schaft wird sie so gesehen bezie­hungsweise verdrängt, wie früher die Slums. Es sind die Slums, die es sich gerichtet haben. Die einen scheffeln Geld und die anderen Emotionen. Und der - die Grundla­ge unserer Kultur bildenden - jahr­tausendealten Forderung vom Geist, der sich den Körper baut, wird eben die Forderung vom Kör­per, der sich den Geist baut, entge­gengesetzt.

Gesellschaft und Tradition wer­den abgeworfen wie unnützer Bal­last.

Bereits im Jahr 1947 schrieb Ernst Jünger in seinem Buch „Sprache und Körperbau": „Inmitten des fürchterlichen Elends und der moralischen und physischen Ver­nichtung, die uns umgibt, mag manchem die Beschäftigung mit solchen Fragen als rätselhaft er­scheinen, als luxuriöser Überfluß. Doch ist es nicht nur Horazischer Gleichmut ins Ungemache, der aus ihr spricht. Es ist zugleich auch folgendes: nach einem Unfall, ei­nem jähen Sturze tasten wir uns zunächst den Körper ab. Wir prü­fen, ob wir unversehrt geblieben sind. So ist es auch hier: die erste Arbeit nach der Katastrophe gilt diesem Ort und Ausgangspunkt der Freiheit, dem Ebenbilde göttlicher Macht."

Von der Katastrophe bis zum „Leben light" waren es immerhin ein paar Jahrzehnte. Und doch ist sie noch immer da, die Katastro­phe; das spürt man paradoxerweise in der Art, wie sie nicht da ist. Die Atmosphäre in den betreffenden Schulen und Zentren ist merkwür­dig entschärft. Aber man entschärft nur etwas, was geladen ist. Eine freie, gesunde Atmosphäre braucht nicht eigens entladen zu werden. Hier, hat man das Gefühl, ist es ein Anspruch, der ständig gestellt und ständig erfüllt werden muß. Es ist eine Atmosphäre, die Menschen, die sich nie zuvor gesehen haben, zum vertrauensvollen Umgang zwingt, zu Gesprächen, die voll sind von Geständnissen von Fehlern und Erlebnissen, die man immer gemein­sam hat.

Nichts ist ein größerer Faux pas in solcher Umgebung, als das Aus­sprechen von etwas, das man mit niemandem teilt. Sofort zeigen sich Risse im psychologischen Gemäu­er. Es trägt das einzelne nicht, denn das einzelne ist Wagnis.

Die Übungen müssen nicht ge­konnt werden, sie müssen nur nüt­zen. Sie müssen Verspannungen lösen, heilsame Verbindungen von Körper und Geist herstellen, das genügt.

Es fällt eher unangenehm auf, wenn man etwas kann. Man kommt in den Verruf, seine Fehler zu ver­decken. Spannungen abzubauen und Neurosen zu entdecken hat hier aber mehr als therapeutischen Wert; es nimmt die Stelle des gesellschaft­lich orientierten Könnens ein. Man wird nicht gesund, indem man ge­sund wird - man wird gesund, in­dem man die Beziehung zum Ge­sunden aufgibt.

So, wie über Dantes Hölle die Worte stehen „Du, der du hier ein­gehst, laß jede Hoffnung sinken", so scheint hier mit unsichtbaren Lettern zu stehen: „Hier kann dir nichts passieren!" Das ist aber kein paradiesisches Pendant zur Hölle, das ist menschlich durch und durch: ein Pendant zu Himmel und Hölle gleichermaßen.

In der christlichen Religion gibt es die Bezeichnung der „Kinder Gottes". Das wollen diese Leute sicher nicht sein. Aber diese Ver­leugnung des Intellekts einerseits und die Vorrangstellung der aus dem Körper herausgehorchten -und getricksten „Geistespotenz" zielen auf eine ähnliche Funktion ab, nämlich: sie zu „Kindern des Lebens" zu machen.

Man hat offenbar eine Formel für „Leben" gefunden, die bisher nur „Gott" hieß. Denn Gott ist ein Anspruch, viel größer noch als das „Können", Gott ist mehr als ein Ganzes, mehr als die Gesundheit, Gott würde die kleinen Psychospie-le und Körpererlebnisse an der großen Fülle messen, er würde wägen und aus „light" vielleicht „arm" machen, unendlich arm. Wer aber vermag in diesem Kreis an eine Barmherzigkeit zu glauben, die ihm keine menschliche Gesellschaft gezeigt hat, die ihm niemand in menschliche Dimensionen übersetzt hat? Und das in Zeiten der Umwäl­zungen, der großen Entwicklungen, der Katastrophe!

Ein Wunsch, der nie erfüllt wird, ja nicht einmal beachtet wird, er­lischt, wird hemmungslos oder gebiert Neues. Es ist der hemmungs­lose Wunsch nach Leben, der die­sen aufgeblähten psychosomati­schen Apparat geschaffen hat und einer Gesellschaft gegenüberge-stellthat, deren Wunsch nach wirk­lichem, ganzheitlichem, ins Trans­zendente zielende Leben erloschen ist.

Das Neue, das sich in dieser unmenschlichen Spannung ent­wickeln muß, ist die Fähigkeit, sei­nen Körper - in der Phantasie -noch einmal herzustellen. Dann ist er vielleicht nicht mehr Körper, der die Kraft birgt, sondern die Kraft, die den Körper birgt. Die Körper­arbeit selbst ist dabei nur eine Facette. Sie wurde, selbst da, wo sie von echtem Geist getragen war, viel zu sehr in den Vordergrund gestellt. Die Wahrung des Geistes als schöpferischer Akt, nicht als direk­tes, einpoliges, eigenmächtiges Ge­schehen, die bedingungslose An­nahme des Schicksals, das Durch­stehen der Leere sind wesentliche­re Elemente.

Liegt hier eine Erweiterung des Lebens des Menschen? Kann sie ihm die Kraft gebin, sich mit der Kata­strophe auszusöhnen?

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