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Der Kosovo ruft
Wenn man weiß, wozu der Mensch im Bösen wie im Guten fähig ist, weiß man auch, daß es nicht darum geht, die menschliche Person zu beschützen, sondern die Möglichkeiten, die sie in sich schließt, das heißt letzten Endes ihre Freiheit": Unerwartet in seiner Plötzlichkeit, herausfordernd, aber auch beängstigend ist dieser Satz von Albert Camus im alten „Ost-Mitteleuropa" zur politischen Wirklichkeit gelangt.
Es geht wieder um Freiheit - nicht um die hohl gewordene Metapher für Gleichgültigkeit, sondern um die schwierige, mühevolle, lebendige Freiheit, die ihren Preis verlangt. Und der Preis heißt Auseinandersetzung mit den Differenzen innerhalb menschlicher Gesellschaften, mit den Unterschieden in ökonomischer, religiöser, nationaler Hinsicht.
In der Tat steht eine Herkulesarbeit bevor. Die Blockbildung in Europa hat im Osten wie im Westen den Blick dafür verstellt, die Erniedrigung wahrzunehmen, der wir uns gleichermaßen durch die Verweigerung wie durch die Geringschätzung der Freiheit aussetzen. Jetzt öffnen sich die Grenzen und das ist eine Chance. Freilich eine Chance, die erst genützt werden will. Europa muß verstehen lernen, daß Brot und Freiheit einander bedingen, daß Differenzen und Unterschiede nicht bloß trennen, sondern einander befruchten können.
Aber verstehen wir auch? Mit einem gewissen Staunen sehen wir, daß die politischen Umwälzungen in den bisher marxistisch regierten Ländern von Schriftstellern vorangetrieben wurden und werden; wir sehen aufbrechende Nationalitätenkonflikte unbegreiflicher Art; die Befriedigung über die politischen Veränderungen wird von Angst vor Chaos begleitet. Daß der eine Teil Europas sich von den politischen Lügen zu befreien sucht, zwingt den anderen Teil zur Wahrheit.
Es gilt also, unnachgiebig an die Ziele zu glauben, die wir uns einmal selbst gesetzt haben. Menschenrechte, zum Beispiel, wie sie vom Internationalen Helsinki Komitee für Menschenrechte vertreten werden: zum freien Wort die Bewegungsfreiheit und die Freiheit, ohne Furcht vor Repressalien sich zu dem bekennen dürfen, worin man sich zu Hause fühlt, was man liebt: eine Sprache, ein Land, eine Religion, eine kulturelle Eigenart.
Ohne Furcht vor Repressalien meint mehr als frei zu sein von politischem Druck. Es bedeutet, angesehen zu werden ohne Vorurteil. Wer ehrlich ist, weiß, daß das allen Schwierigkeiten bereitet. Zum Teil ist es eine Sache der Informationen, zum Teil eine der Denkgewohnheiten.
Jugoslawien, zum Beispiel, stellt sich uns seit Jahren in dem geflügelten Wort vor: Wenn Sie nicht völlig ratlos sind, sind Sie völlig uninformiert, erst recht, wenn es um den Kosovo geht. Von dieser Region wissen wir zu allererst, daß dort Serben und Albaner nicht miteinander reden können. Aber ein Land und Menschen haben für gewöhnlich mindestens zwei Gesichter: eines, mit dem es in den Medien vorgestellt wird und eines, das es für seine Bewohner hat.
Das zweite Gesicht näher zu bringen - darum bemühen sich derzeit eine Soziologin aus Belgrad und zwei albanische Schriftsteller aus dem Kosovo, die als Gäste des Helsinki Komitees gegenwärtig westeuropäische Länder bereisen. Wien war eine Station, eine andere wird Stockholm sein. Daß mit Ibrahim Rugova, Schriftsteller, Kritiker, ehemaliger Vorsitzender des Schriftstellerverbandes im Kosovo, und mit Shkelzen Malizi, einem Philosophen und Publizisten, zwei Schriftsteller auftreten, entspricht der Logik der Revolte in sozialistischen Ländern. Demokratisierung und Veränderung verlangen nach originellem Denken und nach jener ungebändigten Sehnsucht nach Freiheit wie sie „zuallererst in den Herzen von Schriftstellern wohnt". So meinen es die Gäste.
Demokratie ist das Stich- und Zauberwort, in dem sich für sie alle Zukunft zu fokusieren scheint. In diesem Licht stellen sich ethnische Konflikte „als Ergebnis der Verweigerung von Demokratie dar und als Ergebnis der Unterdrückung aller Unterschiede". Für Sonja Licht, die als Soziologin in Belgrad am Institut für Zukunftsstudien arbeitet, liegt die Wunde offen: Nationalismus als Durchgangsstation, nicht als Ziel. Das verlangt nach einer demokratischen Basis, die gleichzeitig nationale Varianten in hohem Maße zuläßt.
Im Februar vergangenen Jahres ist im Kosovo eine sozialdemokratische Partei gegründet worden, Shkelzen Malizi ist eines der Gründungsmitglieder. Vor wenigen Wochen wurde die „Demokratische Union Kosovo" ins Leben gerufen, und sie umfaßt bereits mehr als hunderttausend Mitglieder. Einer ihrer Mitbegründer ist Ibrahim Rugova. Eine unabhängige Schriftstellerorganisation ist entstanden mit nationalen Zentren. Die Zeit, da Schriftsteller allein an ihrem Schreibtisch sitzen, selbstvergessen sozusagen, hinter geschlossenen Türen, ist vorbei. Der Stellenwert, den Literatur und Schriftsteller einzunehmen vermögen, erfüllt aus unserer Sicht beinahe mit Neid.
Das Glück, daß Literatur „nur" Literatur ist, mit anderen zu teilen, ist der Aufruf, der uns ununterbrochen ereilt, damit Literatur eines Tages wiederum „nur" Literatur sein darf. Irgendwann wollen sie alle, die jetzt auf den Straßen agieren, wieder an ihre Schreibtische zurückkehren dürfen, egal ob Vaclav Havel, Shkelzen Malizi oder Ibrahim Rugova. Es wird möglich sein, wenn sich eine Solidarität in Freiheit ergibt. Wenn Demokratie nicht bloß Ziel ist, sondern reale Existenz erhalten hat.
Freilich ist diese Demokratie im „Osten" abhängig vom Maß an Demokratie im „Westen". Was abverlangt wird, ist ein neues kulturelles und damit politisches Klima im gesamten Europa. Wie jedes Privileg - und es ist ein Privileg, daran zu bauen - verlangt es ungeheure Anstrengung.
Das ist der Preis auch unserer Freiheit.
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