7038878-1990_08_12.jpg
Digital In Arbeit

Der Kosovo ruft

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn man weiß, wozu der Mensch im Bösen wie im Guten fähig ist, weiß man auch, daß es nicht darum geht, die menschli­che Person zu beschützen, sondern die Möglichkeiten, die sie in sich schließt, das heißt letzten Endes ihre Freiheit": Unerwartet in sei­ner Plötzlichkeit, herausfordernd, aber auch beängstigend ist dieser Satz von Albert Camus im alten „Ost-Mitteleuropa" zur politischen Wirklichkeit gelangt.

Es geht wieder um Freiheit - nicht um die hohl gewordene Metapher für Gleichgültigkeit, sondern um die schwierige, mühevolle, leben­dige Freiheit, die ihren Preis ver­langt. Und der Preis heißt Auseinandersetzung mit den Differenzen innerhalb menschlicher Gesell­schaften, mit den Unterschieden in ökonomischer, religiöser, nationa­ler Hinsicht.

In der Tat steht eine Herkulesar­beit bevor. Die Blockbildung in Europa hat im Osten wie im Westen den Blick dafür verstellt, die Er­niedrigung wahrzunehmen, der wir uns gleichermaßen durch die Ver­weigerung wie durch die Gering­schätzung der Freiheit aussetzen. Jetzt öffnen sich die Grenzen und das ist eine Chance. Freilich eine Chance, die erst genützt werden will. Europa muß verstehen lernen, daß Brot und Freiheit einander be­dingen, daß Differenzen und Un­terschiede nicht bloß trennen, son­dern einander befruchten können.

Aber verstehen wir auch? Mit einem gewissen Staunen sehen wir, daß die politischen Umwälzungen in den bisher marxistisch regierten Ländern von Schriftstellern voran­getrieben wurden und werden; wir sehen aufbrechende Nationalitä­tenkonflikte unbegreiflicher Art; die Befriedigung über die politi­schen Veränderungen wird von Angst vor Chaos begleitet. Daß der eine Teil Europas sich von den po­litischen Lügen zu befreien sucht, zwingt den anderen Teil zur Wahr­heit.

Es gilt also, unnachgiebig an die Ziele zu glauben, die wir uns ein­mal selbst gesetzt haben. Menschen­rechte, zum Beispiel, wie sie vom Internationalen Helsinki Komitee für Menschenrechte vertreten wer­den: zum freien Wort die Bewe­gungsfreiheit und die Freiheit, ohne Furcht vor Repressalien sich zu dem bekennen dürfen, worin man sich zu Hause fühlt, was man liebt: eine Sprache, ein Land, eine Religion, eine kulturelle Eigenart.

Ohne Furcht vor Repressalien meint mehr als frei zu sein von politischem Druck. Es bedeutet, angesehen zu werden ohne Vorur­teil. Wer ehrlich ist, weiß, daß das allen Schwierigkeiten bereitet. Zum Teil ist es eine Sache der Informa­tionen, zum Teil eine der Denkge­wohnheiten.

Jugoslawien, zum Beispiel, stellt sich uns seit Jahren in dem geflü­gelten Wort vor: Wenn Sie nicht völlig ratlos sind, sind Sie völlig uninformiert, erst recht, wenn es um den Kosovo geht. Von dieser Region wissen wir zu allererst, daß dort Serben und Albaner nicht miteinander reden können. Aber ein Land und Menschen haben für gewöhnlich mindestens zwei Ge­sichter: eines, mit dem es in den Medien vorgestellt wird und eines, das es für seine Bewohner hat.

Das zweite Gesicht näher zu brin­gen - darum bemühen sich derzeit eine Soziologin aus Belgrad und zwei albanische Schriftsteller aus dem Kosovo, die als Gäste des Hel­sinki Komitees gegenwärtig west­europäische Länder bereisen. Wien war eine Station, eine andere wird Stockholm sein. Daß mit Ibrahim Rugova, Schriftsteller, Kritiker, ehemaliger Vorsitzender des Schriftstellerverbandes im Koso­vo, und mit Shkelzen Malizi, einem Philosophen und Publizisten, zwei Schriftsteller auftreten, entspricht der Logik der Revolte in sozialisti­schen Ländern. Demokratisierung und Veränderung verlangen nach originellem Denken und nach jener ungebändigten Sehnsucht nach Freiheit wie sie „zuallererst in den Herzen von Schriftstellern wohnt". So meinen es die Gäste.

Demokratie ist das Stich- und Zauberwort, in dem sich für sie alle Zukunft zu fokusieren scheint. In diesem Licht stellen sich ethnische Konflikte „als Ergebnis der Ver­weigerung von Demokratie dar und als Ergebnis der Unterdrückung aller Unterschiede". Für Sonja Licht, die als Soziologin in Belgrad am Institut für Zukunftsstudien arbeitet, liegt die Wunde offen: Nationalismus als Durchgangssta­tion, nicht als Ziel. Das verlangt nach einer demokratischen Basis, die gleichzeitig nationale Varian­ten in hohem Maße zuläßt.

Im Februar vergangenen Jahres ist im Kosovo eine sozialdemokra­tische Partei gegründet worden, Shkelzen Malizi ist eines der Gründungsmitglieder. Vor wenigen Wochen wurde die „Demokratische Union Kosovo" ins Leben gerufen, und sie umfaßt bereits mehr als hunderttausend Mitglieder. Einer ihrer Mitbegründer ist Ibrahim Rugova. Eine unabhängige Schrift­stellerorganisation ist entstanden mit nationalen Zentren. Die Zeit, da Schriftsteller allein an ihrem Schreibtisch sitzen, selbstverges­sen sozusagen, hinter geschlosse­nen Türen, ist vorbei. Der Stellen­wert, den Literatur und Schrift­steller einzunehmen vermögen, erfüllt aus unserer Sicht beinahe mit Neid.

Das Glück, daß Literatur „nur" Literatur ist, mit anderen zu teilen, ist der Aufruf, der uns ununterbro­chen ereilt, damit Literatur eines Tages wiederum „nur" Literatur sein darf. Irgendwann wollen sie alle, die jetzt auf den Straßen agie­ren, wieder an ihre Schreibtische zurückkehren dürfen, egal ob Vac­lav Havel, Shkelzen Malizi oder Ibrahim Rugova. Es wird möglich sein, wenn sich eine Solidarität in Freiheit ergibt. Wenn Demokratie nicht bloß Ziel ist, sondern reale Existenz erhalten hat.

Freilich ist diese Demokratie im „Osten" abhängig vom Maß an Demokratie im „Westen". Was abverlangt wird, ist ein neues kul­turelles und damit politisches Kli­ma im gesamten Europa. Wie jedes Privileg - und es ist ein Privileg, daran zu bauen - verlangt es unge­heure Anstrengung.

Das ist der Preis auch unserer Freiheit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung