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Der Krankentransport vom KZ Auschwitz

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Vor 50 Jahren wurden 746 Häftlinge des Infektionsblockes im Stammlager Auschwitz im Zeichen der „Fleckfieberbekämpfung" in den Gaskammern ermordet.

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Vor 50 Jahren wurden 746 Häftlinge des Infektionsblockes im Stammlager Auschwitz im Zeichen der „Fleckfieberbekämpfung" in den Gaskammern ermordet.

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Der Tag, an dem das Wort Auschwitz zum ersten Mal nach dem Krieg in einer österreichischen Zeitung genannt wurde, ist genau feststellbar: Es war der 6. Mai 1945. Der Beitrag im „Neuen Österreich", mit dem die Wiener Zeitungsleser bereits mit dem vollen Ausmaß des Geschehens konfrontiert wurden, beruht auf Berichten von fünf ehemaligen Häftlingen, die sich nach der Befreiung von Auschwitz nach Wien durchgeschlagen hatten. Einer von ihnen war Franz Danimann, der Autor dieser persönlichen Erinnerungen an den 29. August 1942.

Eines Tages fühle ich, daß irgend etwas mit mir nicht in Ordnung ist. Ich bin matt und abgeschlagen, noch mehr als sonst, und verspüre heftige Kopfschmerzen und ein Ziehen in den Beinen. Zum Glück dauert der Abendappell im Lager an diesem Tage nicht allzu lange, sodaß ich bald auf den Wohnblock kann. Aber - zum ersten Mal in Auschwitz - esse ich meine Brotportion nicht auf. Sonst genügt sie kaum, um nur den ärgsten Hunger zu stillen. Ich habe keinen Appetit, nur Durst. In Bauch und Magen geht alles durcheinander. Draußen im Klosett kann ich lange nicht aufstehen. Durchfall. Mühsam klettere ich auf die Pritsche und falle sofort, ohne noch auf meine Kameraden zu achten, in tiefen, bleiernen Schlaf. Am nächsten Morgen geht es mir zunächst besser. Ich rücke daher normal mit dem Arbeitskommando aus. Aber am Nachmittag, wir schleppen eben Steinplatten im Garten eines SS-Offiziers, werde ich von einem plötzlichen Schwindelgefühl erfaßt. Ich muß mich an einer Wand stützen, um nicht hinzufallen, Mihal, mein polnischer Kamerad, der schon ein paarmal besorgt nach mir geblickt hat, ist sofort zur Stelle.

„Was ist Franz? Krank? Schmerzen? Wo?"

Ich kann nur die Achseln zucken. Mein Kopf ist furchtbar schwer geworden. Wenn ich mich ein bißchen hinlegen oder hinsetzen dürfte! Zum Glück ist unser SS-Begleiter nicht in der Nähe. So kann ich mich bei einer Nische des Baues niederlassen. Meine Kameraden geben inzwischen acht. Bis es schließlich Zeit zum Einrücken in das Lager wird. Unter Aufbietung aller Kräfte schleppe ich mich in der Kolonne in das Lager zurück. Zeitweise wird alles dunkel um mich. Mechanisch setze ich Schritt vor Schritt und wanke auf den Appellplatz.

Von da ab aber verwirrt sich alles, und die Erinnerung verliert sich in einem immer dichter werdenden Nebel. Wie von ferne ertönen die Kommando rufe der Blockältesten und das Geschrei der SS-Leute. Bis überhaupt alles um mich her verschwimmt. Von dem, was später geschieht, erfasse ich nur, ganz undeutlich, Bruchstücke ...

Ich finde mich in einem Raum wieder, der nach Bad aussieht, aber nach Spital riecht, und werde von einem Häftlingspfleger entkleidet. Aber schon verliere ich wieder das Bewußtsein, ich weiß nicht, für wie lange. Sind es Stunden? Tage? Irgendwann - dämmert mir - werde ich von einem Häftlingsarzt untersucht. Später, ich glaube viel später, werde ich gefüttert wie ein kleines Kind und erhalte Leibflasche und Schüssel. Der polnische Häftlingsarzt, der mich betreut und nur gebrochen deutsch spricht, murmelt eine lateinische Bezeichnung der Krankheit, die mir nicht geläufig ist. Und er sagt auch etwas von Komplikationen. Er ist in rührender Sorge um mich bemüht, und eines Tages richtet er mir auch Grüße von Mihal aus, der sich nach mir erkundigt hat, aber nicht in den Block gehen durfte. Als ich nach einiger Zeit das erstemal aufstehen darf, bin ich schrecklich schwach auf den Beinen. Gleich muß ich mich wieder niedersetzen. Sobald es mir ein bißchen besser geht, versuche ich mich etwas nützlich zu machen und dem Pfleger einige leichtere Arbeiten abzunehmen. Ich reiche nun anderen Kranken die Leibschüssel, helfe beim Reinigen des Zimmers, beim Fiebermessen und bei der Verteilung des Essens.

Eines Tage, ich bin schon eine Weile fieberfrei, ist plötzlich im Block der Teufel los. Es wird geschrubbt und geputzt, die Kübel gescheuert und die Strohsäcke umgedreht, alles in nervöser Hast, wie in einer Kaserne vor dem Besuch eines Generals. Tatsächlich wird eine Visite des Lagerarztes, eines SS-Offiziers, erwartet. Mit diesem Besuch soll es, wie ich erfahre, eine besondere Bewandtnis haben. Der SS-Arzt, so wird geflüstert, werde eine größere Anzahl von Kranken aussuchen, die dann in ein neues Spital, im Zweiglager Birkenau, gebracht werden sollen. Dort seien auch Rekonvaleszentenblöcke eingerichtet. Auf diese Weise soll der bei weitem überbelegte Krankenbau in Auschwitz entlastet werden. Doch den mißtrauischen Häftlingen ist die sonderbar anmutende Fürsorge der SS für die Kranken verdächtig.

Das Krankenpersonal ist angesichts des bevorstehenden Besuches an äußerst nervös. Die Pfleger schreien herum, nichts kann man ihnen recht machen. Gerade in dieser Zeit aber erleide ich einen Rückfall. Daher geht das aufgeregte Getue halb an mir vorüber. Und so fällt es mir auch nicht besonders auf, daß zahlreiche Patienten, Hals über Kopf, vielfach ohne vorher überhaupt untersucht zu werden, aus dem Krankenhaus entlassen werden. Der Block leert sich zusehends. Ich bin froh, daß ich für eine Entlassung noch nicht in Frage komme. Es geht hier doch viel ruhiger zu als im Lager, wenn auch der Hunger hier noch größer ist. Umso betroffener bin ich, als Hans, der Pfleger, zu mir kommt und mir mitteilt: „Du gehst auch ins Lager. Ich kann dich nicht mehr halten." „Aber Hans, ich kann doch kaum stehen..."

"Oder willst ins Gas gehen, du Narr?"

Doch Hans läßt sich auf keine Debatte ein, er besteht darauf, daß ich am nächsten Tag ins Lager entlassen werde. Ich kann ihn davon nicht abbringen. Schon im Weggehen dreht er sich noch einmal um und zischt mir zu: „Oder willst ins Gas gehen, du Narr?" Und blickt sich dann ängstlich um, ob auch niemand zugehört habe. Dann eilt er davon. Ich bleibe ein paar Minuten benommen liegen und versuche den Sinn der Worte zu deuten. Doch mein Kopf ist ganz dumpf und keines klaren Gedankens fähig. So muß ich wieder hinübergedämmert sein, bis ich unsanft ins Bewußtsein zurückgerissen werde. Viktor, ein Landsmann und Kamerad, rüttelt mich ungestüm. Erregt raunt er mir ins Ohr:

„Das Gerede vom Krankenbau in Birkenau ist ein Schmäh. Das haben s' nur aufgebracht, daß niemand Verdacht schöpfen soll, wenn der Lagerarzt kommt und - aussortiert. In Birkenau haben sie keine Schonungsblöcke sondern - Gaskammern." (1)

Viktor sagt auch, daß auch er sich freiwillig ins Lager gemeldet habe, obwohl er noch gar nicht richtig beisammen sei. Und ich müsse auch hinaus, bevor es zu spät sei. ich brauche einige Minuten, um die Worte Viktors zu erfassen. In Birkenau: statt Schonungsblöcken - Gaskammern! „Aber Vickerl - das können sie doch nicht. Das nicht! Denk' doch an das Aufsehen - im Ausland."

Viktor sieht mich an und zuckt ratlos die Achseln. Er greift nach meinem Kopf, als wolle er fühlen, ob ich im Fieber spreche. Noch einmal dringt er in mich, den Krankenbau zu verlassen, selbst wenn ich nicht an die Gefahr glaube. Man dürfe sich nicht auf ein Risiko einlassen und keinen Fehler machen, der nicht mehr gutzumachen sei.

Doch am nächsten Tag wurden die Entlassungen aus dem Krankenbau gestoppt. Angeblich über ausdrücklichen Befehl des Lagerarztes. Dies müßte mich eigentlich nachdenklich stimmen. Aber eigenartigerweise bin ich mir keiner Gefahr bewußt. Die Mitteilung von Hans und Viktor ist schon wieder weit weg. Währenddessen nimmt das nervöse Treiben zum Empfang des Lagerarztes weiter seinen Fortgang. Der „hohe Herr" soll nur ja nicht durch irgendwelche Unzukömmlichkeiten verstimmt werden. Der Sinn mancher Maßnahmen wird mir erst später klar. Die Kranken werden gewaschen und rasiert. Auch die Kopfhaare werden nachgeschnitten. Dies alles geschieht nicht aus übertriebenen Reinlichkeitsrücksichten, sondern aus der Erwägung heraus, daß ein sauber gewaschener und frisierter Kranker frischer aussieht und daher - als bald arbeitsfähig - bessere Aussicht hat, durchzurutschen. Die Pfleger gehen von einem Bett zum anderen und flüstern mit den Kranken. Da sie Polnisch sprechen, kann ich sie nicht verstehen. Ein wenig wird mir nun bang. Hans läßt sich nicht blicken. Doch dann kommt der polnische Häftlingsarzt zu mir und flüstert eindringlich: ,3eim Lagerarzt - ganz stramm stehen!" Und nimmt Habtachtstellung an, womit er mir andeuten will, wie ich mich kflf"' verhalten soll. Er fährt mir über die Schulter und eilt gebeugt weiter, wie unter der Last vieler Bürden. (Erst später erfahre ich, daß es auch Hans erwischt hat. Er liegt zu dieser Zeit auf der Pflegerstube mit hohem Fieber.)

Und dann müssen die Kranken, die dazu imstande sind, aus den Betten heraus und am Korridor antreten. Barfuß und nackt. Die Fieberkurven werden uns in die Hand gedrückt. Wieder nach einer Weile höre ich irgendwo eine scharfe Stimme rufen: „Achtung!" Und dann eine Meldung. Schwere Schritte poltern über den Korridor. Und dann kommt er auch schon eiligen Schrittes vorbei, der SS-Lagerarzt, groß, hager, mit Brille, unpersönlich.

Aussortierte Kranke

Er „beginnt" im ersten Stock. Wir im Parterre müssen warten, bis die Reihe an uns ist. Wozu man uns überhaupt schon so früh aufgejagt hat? Ich bedenke nicht, daß man den hohen Gast nicht warten lassen darf und daß alles sehr flott gehen muß. Er wird leicht ungnädig. Das aber ist höchst gefährlich. Ich bin so müde, daß ich keinen anderen Gedanken habe, als zurück ins Bett. Aber es dauert und dauert. Bald sind einige Kameraden hingesunken. Und dann weiß ich plötzlich nicht mehr, was um mich vorgeht... Schließlich, ich weiß nicht, wie lange später, finde ich mich wieder auf meiner Pritsche. Wieder ist es der polnische Häftlingsarzt, der mich, unterstützt von Gebärden, aufklärt über das, was sich inzwischen abgespielt hat. Der Lagerarzt habe die Kranken im ersten Stock aussortiert und die Fieberkurven der Schwerkranken mit sich genommen. Ein Blick habe genügt. Untersucht sei niemand worden. Nur verhältnismäßig wenig Kurven habe er zurückgelassen mit der Weisung, daß diese Patienten unverzüglich zum Arbeitskommando zu entlassen seien. Dann sei er weggefahren zum Mittagessen und habe versprochen, am Nachmittag wiederzukommen, um den Rest durchzustehen. Die übrigen Kranken hätten daher weiter warten müssen. Bis schließlich die Verständigung kam, der Lagerarzt könne an diesem Tag nicht mehr kommen. Daraufhin seien die Kranken wieder in die Betten gebracht worden. Es habe sich jedoch bei vielen der Zustand verschlechtert.

Am nächsten Tag werde ich mit einer Reihe von Kameraden, Junter denen sich auch jene befinden, die vom Lagerarzt für die Entlassung bestimmten wurden, ins Lager überstellt. Zu unserem Glück werden wir wegen einer größeren gerade im Gang befindlichen Entlausungsaktion nicht sofort einem Arbeitskommando zugeteilt. So können wir doch noch ein wenig zu Kräften kommen.

Mittlerweile aber - einer sagt es flüsternd dem anderen - ist fast der gesamt Krankenbau „geräumt" worden. Die vom Lagerarzt in den drei Krankenblöcken aussortierten Kranken, deren Fieberkurven er mit sich genommen hatte, seien, nur mit Hemd und Häftlingsmantel bekleidet, auf offene Lastwagen verladen und abtransportiert worden. Insgesamt etwa sechs- bis siebenhundert Personen. Mit der Begründung, daß die Betreuung der Kranken nicht unterbrochen werden dürfe, habe man auch einige Pfleger mitgeschickt. Später erfahre ich, daß unter den Abtransportierten auch drei gute österreichische Kameraden waren. Josef Nagl, Franz Riegler und Alois Sindl, der mit mir manches Stück Brot geteilt hat. (2)

Wenige Tage nach dem Abtransport trägt der Wind aus Birkenau einen eigenartigen durchdringenden Geruch herüber. „Verbranntes Fleisch", sagen die Kameraden und blicken sich traurig an. Aber mache zweifeln noch immer. Sie meinen, ein solches Verbrechen könne sich selbst die Hitler-Himmler-Clique nicht leisten.

Doch nach einigen Tagen gibt es keine Zweifel mehr. Die Nachrichten aus Birkenau, überbracht von Kameraden, die draußen arbeiten, werden immer konkreter und unumstößlicher. Die Vergasung des Auschwitzer Krankentransports sei auch keinesfalls etwa eine Sonderaktion gewesen. Bereits seit einiger Zeit seien ganze Transporte von auswärts ins Gas gegangen. Bei anderen Transporten habe man nur die Kinder, Alten, Kranken und Schwachen für die Gaskammern aussortiert. Nach einigen Tagen kommen die Häftlingsmäntel, in die man die Kranken gehüllt hatte, nach Auschwitz zurück, und in der Schreibstube werden die Karteikarten herausgesucht und Totenmeldungen geschrieben.

Als ich endgültig - Gewißheit -über das Schicksal des Krankentransports habe, werde ich einen Augenblick ganz schwach, obwohl ich eigentlich Zeit genug gehabt hätte, mich an den Gedanken zu gewöhnen. Die Knie zittern, und ich muß nach einem Halt suchen. Jetzt erst, nachträglich, vermeine ich den kalten Hauch des Todes über mich hinwegstreichen zu fühlen...

(1) Die Vorstufe zu den Vergasungen waren die „Abimpfungen" mit Phenol im "Häftlingskrankenbau".

(2) Alle drei waren „arische" politische Häftlinge, die nach der Strafverbüßung nach Auschwitz gekommen waren. Josef Nagl stammte aus Wien, Alois Sindl aus St. Pölten und Franz Riegler aus Mürzzuschlag. Ich war nach dem Krieg mit Angehörigen in Verbindung.

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