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Der Kult um die Gesundheit

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Sind wir auf dem besten Weg eine Nation von Hypochondern zu werden? Verwenden wir nicht immer mehr Zeit, Energie und Geld für die Bewahrung beziehungsweise Wiederherstellung unserer Gesundheit?

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Sind wir auf dem besten Weg eine Nation von Hypochondern zu werden? Verwenden wir nicht immer mehr Zeit, Energie und Geld für die Bewahrung beziehungsweise Wiederherstellung unserer Gesundheit?

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Ganz sicher ist Gesundheit ein beherrschendes Ziel unseres Lebens geworden. Das Leben selbst besteht aus einer Serie von Verhaltensvorschriften, die wir zu befolgen haben: Ernährung, Freizeit, Arbeitsstil, Schlafgewohnheiten, Genußmittel, Sexualität, Altern - alles wird unter dem Aspekt betrachtet, wie gesund oder ungesund es ist.

Ernährung und Fitneß sind die beiden Bereiche, in denen der neue Gesundheitsfetischismus besonders augenfällig wird. Im Bereich Ernährung heißt die Devise „alles ist gesund, was nicht schmeckt”. Und im Bereich der Fitneß können Orthopäden ein Lied davon singen, welche Gesundheitsschäden zum Beispiel die Jogging-Welle nach sich gezogen hat.

Wir sind offensichtlich zu Gefangenen einer Gesundheitsideologie geworden, die uns das Leben eher vermiest als es uns genießen läßt. Darüber kann auch die neueste Begriffs-Artistik nicht hinwegtäuschen, die anstelle des Gesundheitskonzeptes das aus den USA importierte „Wellness”-Konzept setzt: Hier wird das subjektive Wohlfühlen, das ja die Folge aller Gesundheitsbemühungen sein soll, als neues Ziel propagiert („Das geistige und seelische Wohlbefinden des Menschen”).

Drei Persönlichkeitstypen lassen sich im Hinblick auf ihr Gesundheits-Gefühl grob unterscheiden:

□ Die „Stoiker” kümmern sich wenig um ihren Gesundheitsstatus, deshalb sorgen sie sich auch wenig um mögliche Krankheiten und deren Symptome. Sie sehen es als selbstverständlich an, daß sie gesund sind. Eine Erkrankung nehmen sie fast fatalistisch hin. Sie verleugnen sogar des öfteren ihre Symptome und müssen von Verwandten oder Freunden geradezu zum Arzt geschleppt werden.

□ Die „besorgten Gesunden” sind wohl am häufigsten anzutreffen: Sie sind „gelegentlich” hypochondrisch, vor allem unter großem Streß. Sie verleugnen ihre Symptome nicht wie die Stoiker, versuchen aber, ihre Gesundheit zunächst durch Hausmittel oder Veränderung der Lebensweise in den Griff zu bekommen. Ändern sich die Lebensumstände solcher Menschen dramatisch, etwa durch soziale Isolation und Einsamkeit, oder aber durch andauernden beruflichen oder familiären Streß, dann laufen sie Gefahr, vom Teilzeit-Hypochonder zum Full-Time-Hypochonder zu mutieren.

□ Der „Full-Time-Hypochonder” leidet unter der Vorstellung, daß er ernsthaft krank ist, und er belagert die Ärzte, die keine Diagnose finden können, mit seinen ständig wechselnden Symptomen. Hypochonder dürfen nicht mit Simulanten verwechselt werden, die Krankheiten vortäuschen, um unangenehmen Dingen auszuweichen. Sie sind Menschen, die ihren körperlichen Zustand keine Minute lang vergessen können und in langen Monologen über ihre diversen Leiden referieren. Sie haben den Zustand der Selbstaufmerksamkeit und der ständigen Selbstbeobachtung zur Lebensform entwickelt.

Nun liegt aber der Schlüssel für unser Gesundheits-Gefühl im Umgang mit den Symptomen. Unser Wohlbefinden hängt in erster Linie davon ab, wie wir die Zeichen und Signale des Körpers bewerten.

Auf den Körper hören

Wir können zu jedem Zeitpunkt, an dem wir uns ganz bewußt auf unseren Körper und unsere Empfindungen konzentrieren, eine ganze Reihe von im Grunde unbedeutenden und gutartigen „Krankheiten” entdecken:

Eine wunde Stelle im Mund, leichter Kopfschmerz, eine Hautreizung, ein leichter Muskelschmerz, Durchfall, eine verstopfte Nase, ein Hühnerauge, Herzklopfen, eine lästige Müdigkeit... In einer amerikanischen Studie wurde festgestellt, daß der durchschnittliche Erwachsene an jedem vierten Tag eines dieser Symptome aufweist. Insgesamt gibt es also etwa 80 „Krankheits”-Episoden pro Jahr. Dieser Befund bestätigt, daß wir im Grunde nie ganz gesund, aber auch nur selten emsthaft krank sind, sondern uns in der Regel auf einem Kontinuum zwischen diesen beiden Extremen bewegen. Sie sind eine Art von „Hintergrundgeräusch”, das wir weitgehend ignorieren können.

Eine Gesundheitsideologie jedoch, die die Menschen dazu anhält, ständig auf körperliche Signale und Symptome zu achten, erzeugt intensive Selbstaufmerksamkeit und Hypersensibilität. Belanglose und vorübergehende körperliche Beeinträchtigungen werden als emstzunehmende Probleme empfunden. Wenn wir ständig berieselt werden mit Hinweisen auf mögliche Krankheiten und Risiken, wenn uns ständig suggeriert wird, wie ernst wir bestimmte Symptome zu nehmen haben und wie wichtig die Vorsorge ist, dann enden wir in einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung und lassen zu, daß die kleinen Beschwerden des Alltags uns kränker machen. Anders ausgedrückt: Wir sind nicht unbedingt kränker, aber wir fühlen uns so.

Warum aber haben wir uns so bereitwillig medikalisieren lassen? Warum lassen wir uns Bio-Produkte aufschwatzen, hetzen in Joggingschu-hen und auf Mountain-Bikes durch die Gegend, halten Diät und greifen immer häufiger zu pharmazeutischen Lebenshilfen?

Der Kult um die Gesundheit und um das gesunde Leben entspringt sicher zu einem guten Teil dem Wunsch nach Kontrolle - je mehr wir die Kontrolle über äußere Ereignisse verlieren, weil wir in einer unbegreiflich komplexen und durchbürokrati-sierten Welt leben, desto angestrengter versuchen wir, das zu beeinflussen und zu kontrollieren, was wir noch am leichtesten können: Unseren eigenen Körper, unsere eigene Gesundheit.

Soziologen und Psychologen handeln die übertriebene Beschäftigung mit dem eigenen Gesundheitszustand als Bewältigung von noch unbewußten Krisen wie Narzißmus, Vereinzelung und Isolation ab.

Unsere Angst vor Krankheit und Schwäche nimmt in dem Maße zu, wie uns soziale Unterstützung fehlt. Krankheit, Alter und Tod waren früher natürliche Lebensprozesse, eingebettet in Familie, Freundeskreise und andere soziale Zusammenhänge. Wer heute krank wird, der fällt aus den noch bestehenden sozialen Systemen heraus und wird noch mehr isoliert, als er es ohnehin schon ist.

So ist der Gesundheitsfetischismus möglicherweise auch der Versuch, neue soziale Bindungen zu stiften -etwa in Selbsthilfegruppen, Fitneß-Clubs oder anderen Einrichtungen, die der Gesundheitsvorsorge dienen. Somit wäre das kollektive Streben nach Gesundheit auch ein unbewußtes Suchen nach menschlicher Nähe.

Kein Leben ohne Krankheit

Das Gesundheits-Paradox ist eine Denk-Falle, in die wir immer weiter hineinrennen, wenn wir uns nicht bewußt machen, daß es kein Leben ohne Krankheit und Tod gibt. Das heißt nicht, gesundheitspolitischen Fatalismus und Gleichgültigkeit zu propagieren oder nicht alle Möglichkeiten einer vernünftigen Gesundheitsvorsorge auszuschöpfen. Es bedeutet jedoch anzuerkennen, daß es unvermeidbare Leiden und Schmerzen gibt, daß Gesundheit ein höchst labiler und nie „machbarer” Zustand ist, und Altem und Tod unaufhaltsame Prozesse sind. Erst wenn wir diese Tatsachen anerkennen - das ist das positive Paradox -, sind Wohlbefinden und Lebensglück möglich.

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