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Der Kurgast

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Ein Tief über dem Golf von Genua und dem westlichen Mittelmeer, das seine Lage kaum veränderte, hatte nördlich der Alpen zum Aufkommen einer warmen Südwestströmung geführt, die Temperaturen lagen über dem langjährigen Durchschnitt und die Niederschlagsmengen wesentlich unter demselben, doch die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik erklärte, daß so ein Februar durchaus nicht ungewöhnlich sei. Als Napoleon Edelsberg bei Linz beschoß, seien die Temperaturen noch mehr über dem Durchschnitt und die Niederschläge noch mehr unter dem Durchschnitt gewesen. Man müsse Jahrhunderte messen und vergleichen, nur so werde ersichtlich, was an außergewöhnlichem wirklich außergewöhnlich sei. Aber die Rettung hatte viermal so viele Ausfahrten wie in Monaten, in denen das Tief über Genua sich rasch auffüllt und seine Lage verändert und die Winde auf West drehen und die Temperatur zurückgeht kühlerer Luftmassen zufolge. Und so war es dann ja auch, im März war es so und im Juni noch, weil die Niederschlagstätigkeit anhielt und die Schneefallgrenze absank bis in höhere Tallagen. Jener Februar war ein Fall von Scheinfrühling, man konnte ihn ruhig so nennen, schon in der unvernünftigen Natur gibt es Schein, da sind sich Meteorologen und Gynäkologen durchaus einig. In jenem Februar also habe ich mich die Blattknospen eines Strauches betrachten sehen, es handelte sich um einen jener dankbar genannten Sorten, die in Großstädten unverbaute Liegenschaften umgeben und Kohlen-monoxyd aushalten und speiende Betrunkene und das von Hunden. Und als ich die Blattknospen betrachtete und mich dabei sah, schob sich der alte Mann darüber, genauer, die Erinnerung an ihn, den ich zwei Tage vorher einen blühenden Forsythienstrauch habe betrachten sehen, ich selbst bin in der Straßenbahn gesessen, die gerade gehalten hat. Ein Rentner, habe ich gedacht, der Forsythien betrachtet um neun Uhr früh, und dann ist die Straßenbahn weitergefahren. Und zwei Tage später ist mir das passiert mit den Blattknospen und daß sich der Mann dazwischengeschoben hat, der Rentner. Im übrigen habe ich mehr an die Südwestströmung gedacht und die Temperatur über dem langjährigen Durchschnitt. Das Frühjaihr ist nie meine Sache gewesen, ich leide an Mattigkeit und erhöhter Schweißabsonderung, dann die Schatten, noch winterkalt aus zugigen Fluren alter Häuser — doch in jenem Februar vor zwei Jahren, es war als wünschte ich mir alles früher, um es länger haben zu können.

Ich liege auf der Couch und stelle abwechselnd das Köchelverzeichnis ein und den Big Band Sound. Das Appartement ist sehr gepflegt, gepflegt wie gepflegte Musik, gepflegtes Brauchtum, gepflegte Heimat, gepflegte Weine, gleich dem allen also nicht bekömmlich. Das Mobiliar tut, was ein Mobiliar in solchen Fällen und bei solchen Preisen zu tun hat, es verrät Formsinn. Setze ich mich auf den Sessel, spüre ich den Formsinn drückend im Kreuz, und auf der Couch habe ich den Formsinn drük-kend im Genick. Sonst aber ist alles sehr gepflegt. Ich schalte das Köchelverzeichnis ab.

Ich möchte etwas trinken, ich sollte jetzt trinken dürfen, am besten Vogelbeerschnaps, sicher keinen Whisky, die Marken werden immer schlechter, wahrscheinlich ist die Nachfrage zu groß, die Bühnen brauchen ihn, Langeweile auf ihm hinschwimmen zu lassen, sehr viel brauchen die Siedlungshäuser, und es werden täglich mehr Siedlungshäuser, aber ich muß etwas trinken, schließlich kann ich ja nicht schon schlafen gehen, um neun Uhr gehen nur Leute schlafen, die vom Feld kommen oder vom Straßenbau.

Man speist hier bereits um sechs Uhr, was heißt speist, bei drei Salat-blättchen, Topfen aus der Schale, dem Endchen Fleisch, gedämpft, grau und salzlos wie protestantische Schwestern, alles zusammen ein Feiertag für Zahnlose. Und vorher sagt jeder, der hereinkommt, Mahlzeit, und jeder, der hinausgeht, sagt Mahlzeit, was das heißen soll, rate, wer will, gesegnete Mahlzeit kann es ja nicht heißen, derlei Mahlzeit nützte auch der Segen nichts, eher etwas Salz und Gewürze, aber vielleicht meinen sie mit Mahlzeit guten Abend oder einen anderen Gruß, nachher wohl bekomm's etwa oder gute Nacht, obschon das bare Ironie ist, gute Nacht, beginnend ein Viertel nach sechs ohne etwas zu trinken.

Zehn Uhr. Ende der kulturellen und der unterhaltenden Musik. Nachrichten. Die Informationsabteilung meldet. Und dann meldet die Informationsabteilung, daß die, die man schon kennt, gegen die, die man schon kennt, wegen, was man schon kennt, gegen die, die man schon kennt, wegen, was man schon kennt, fordern, was man schon kennt, und vertagen, was man schon kennt, und die Opfer werden eingeteilt in Mörder und Ermordete, und die Mörder werden eingeteilt in Mörder und Befreier, und die Befreiten werden eingeteilt in Ermordete und Mörder, und die eigenen sind, wie man schon weiß, und die anderen sind, wie man schon weiß, das komme davon, habe ein Mitglied der Konservativen erklärt, daß das Befreien so überhandnehme, immer stoße man auf Holzköpfe, die sich lieber umbringen als befreien lassen, und wo denn das Befreien überhaupt hinführe, nur gut, daß bei jeder Befreiung ein paar Freie eingesperrt werden, so schaffe man den nächsten Befreiern einen gewissen Vorrat an Befreiungen ...

Landesnachrichten. Der Präsident hat seiner Hoffnung Ausdruck gegeben und der Minister hat eröffnet und der Bundesobmann hat erklärt und der Kammerpräsident hat darauf hingewiesen und die Nächti-gungsziffern für den Monat beziffern sich um achtemviertel Prozent mehr wie man denn überhaupt Maßnahmen weil Nächtigungen die sich immer mehr beziffern bei dem Personalmangel die sprichwörtliche Gastfreundlichkeit Österreichs wie der Präsident der Gastgewerbe- und Hotelbettenvereinigung nachgewiesen hat an Hand ... Wir brachten Landesnachrichten.

Zehn Uhr zwanzig. Erst wenn die Nachrede mit einem Male in den Nachruf kippt, hört man, in welchem Ruf einer gestanden ist, immer sei er heiter gewesen, hört man, und auch sonst nicht ganz bei Verstand, ein positiver Mensch, der das Gute gesucht und das Gute getan, das Schlechte stets als Irrtum ausgelegt habe, und man hört, daß er sich nichts verziehen und immer an ewige Werte geglaubt habe, die zu bewahren seien, er sah in der Familie die Keimzelle des Staates, rief ihm einer nach, und dem Staat und seinen Keimzellen habe er Ruhe und Ordnung anvertraut, er habe geglaubt, daß man ohne Glauben nur Falsches glaubt, weil er nicht glauben hätte können, daß man nichts glauben kann, und das hübsche Grab habe er, hört man, beizeiten schon gekauft nebst dem barocken Kreuz dazu und der Aussicht auf die heimatlichen Gebirge.

Elf Uhr fünfundvierzig. Elf Uhr fünfundvierzig? Da ist, ja, da ist die Uhr stehengeblieben. Vielleicht ist schon Mitternacht vorbei, vielleicht, vielleicht fehlen noch einige Minuten, vielleicht ist jetzt, eben jetzt könnte das Radio wieder a^Then': die Zeit, in zwanzig Sekinnd»n vierundzwanzig Vhr zugleich null Uhr. Ein unangenehmer Moment, ich verzichte also auf die Zeitgewißheit, ich bin der Zeit ohnedies mehr gewiß als mir guttun kann.

Nun, die Uhr ist stehengeblieben, sie blieb stumm und mir bleibt Mitternacht erspart, der Schritt, der sichtbarste des Tages, das Zurückklappen der Tafel wie im Autobus nahe der Endstation, die Linie, der Riß ... der Champagner, den du trinkst, du setzt das Glas an mit dem letzten Glockenschlag, und was du trinkst, ist schon vom vorigen Jahr.

Man muß die Nacht schultern und gehen mit der Nacht und sich vom Tag nicht trösten lassen, vielleicht also ist jetzt oder war gerade Mitternacht, ich weiß es nicht, meine Uhr ist stehengeblieben. Ich werde ohne Stundenzählung den Morgen erwarten, die Amseln im Nebelnest.

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