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Der lange Marsch nach Rot-weiß-rot

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Wie stand es 1945 um die österreichische Identität? Was bewirkten die Erfahrungen im „Dritten Reich“? Der Nationsbegriff wurde jedenfalls erst ab 1955 offen diskutiert.

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Wie stand es 1945 um die österreichische Identität? Was bewirkten die Erfahrungen im „Dritten Reich“? Der Nationsbegriff wurde jedenfalls erst ab 1955 offen diskutiert.

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1. Die Fragen der österreichi- • sehen Identität standen 1945 in erster Linie im Spannungsfeld außenpolitischer Realbedingungen. Damit bestand im Verständnis der politisch Handelnden keine Alternative zur Wiedererrichtung Österreichs.

Das Schlagwort von der „befreiten Republik“ genügte zumindest außenpolitisch als Klammer der österreichischen Selbständigkeit. Daher war eine theoretische Diskussion um die Bestimmungspunkte einer österreichischen Nation oder Nationalität nicht erforderlich.

Erst nach Abzug der alliierten Truppen und der Verabschiedung des Neutralitätsgesetzes 1955 setzte eine intellektuelle Auseinandersetzung um diese Fragen ein (zum Beispiel durch die Diskussi-

on im „Forum“ 1956 zwischen Friedrich Heer und Taras Boro- dajkewicz).

2• Die selbstverständliche

Identität Österreichs enthielt auch Elemente eines durch die Niederlage des „Dritten Reiches“ erklärlichen Pragmatismus vis-ä-vis den vier alliierten Mächten. Das Entstehen eines österreichischen Nationalbewußtseins stand jedenfalls sowohl zwischen 1943 und 1945 wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch unter dem Zeichen politischer und wirtschaftlicher Zweckmäßigkeitserwägungen.

3• Nachdem die Gründungs-

Wirklichkeit der Zweiten Republik nur in den allerersten offiziellen Äußerungen der österreichischen Politiker auf einem „antifaschistischen“ Grundkonsens beruhte, wurde diese Frage für die weitere Entwicklung Österreichs nicht entscheidend, sondern die Tatsache, daß es der Zweiten Republik gelang, eine Integration der beiden Bürgerkriegsparteien von 1934 dauerhaft zu verwirklichen. Die Frage der österreichischen Identität war also bereits 1945 nicht ausschließlich unter dem Aspekt der Teilnahme Österreichs am „Dritten Reich“ beurteilt worden.

Dazu zwei Beispiele: die Frage der österreichweiten Anerkennung der Regierung von Karl Renner wurde weder von den westlichen alliierten Mächten noch von den westlichen Bundesländern auf den Länderkonferenzen im Herbst 1945 primär unter dem Gesichtspunkt des Geschehens von 1938 bis 1945 beurteilt.

Der zwischen den politischen Führungsschichten der österreichischen Volkspartei und der Sozialistischen Partei Österreichs 1945 verwirklichte Konsens erfaßte zumindest aus der Sicht der politisch Handelnden nicht die gesamte Bevölkerung.

Die traditionellen sozialen und ideologischen Lager behielten ihre Solidarisierungskraft, wodurch wichtige Fragen der Identität - wie etwa die Entnazifizierung - in erster Linie entsprechend ihren möglichen Konsequenzen für das labile politische Gleichgewicht zwischen den Großparteien behandelt wurden.

4• Zusätzlich zu dieser Integra- tionsvorstellung der beiden großen politischen Parteien trat als Hemmnis für eine wohl nicht ohne Konflikt mögliche Nationsdiskussion die Tatsache auf, daß im vorrangigen Interesse der politisch Handelnden neben der Wiedererlangung der vollen Souveränität der wirtschaftliche Aufbau des Staates stand.

5• Wenn 1945 als entscheiden-

der Wandel im österreichischen Nationsverständnis erstmals die Begriffe Staat und Nation de facto zur Deckung gebracht wurden, so wirkte dennoch die ostmitteleuropäische Tradition einer unterschiedlichen Begriffsbestimmung und Bewertung von Staat und Nation nach.

6• Der Ablöseprozeß von der gemeinsamen Geschichte im deutschen Sprachraum konnte in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht sofort vollzogen werden. Schließlich galt noch bis 1938 in der Ersten Republik die weitgehend unbestrittene These, daß Österreich ein zweiter deutscher Staat sei.

Die Identitätsdiskussion mußte daher auf Traditionsmuster zurückgreifen, die nicht diese historische Belastung trugen. Die Probleme derartiger Brechungen der Identität sind auch in den Trägern des Beginnes der Zweiten Republik deutlich nachzuweisen (zum Beispiel bei Karl Renner und Leopold Kunschak).

7• Die gemeinsame Sprache galt in den theoretischen Diskussionen um nationale Zusammengehörigkeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts als wesentliches Bestimmungsmerkmal. Erst mit der Wiedererrichtung der Re-

publik Österreich hat die Sprache als Identifikationsmerkmal für die Österreicher ihre überragende Bedeutung verloren.

Dieser Wandel hat als bekannte Eigentümlichkeit so weit geführt, daß etwa selbst der Begriff „Deutsch“ im offiziellen Kontext keine Verwendung fand (zum Beispiel hinsichtlich der Unterrichtssprache). Anhand der Entwicklung des emotionalen Bezugsfeldes von Sprache läßt sich die Entwicklung Österreichs sehr deutlich konturieren.

Skizzenhaft läßt sich festhalten, daß die Sprache im Nationalitätenstaat Österreich-Ungarn als nationales Identifikationsmerkmal zur Emanzipation nationaler Gruppen diente. Nach 1918 bedeutete die Sprache in Österreich ein wesentliches Merkmal zur Bestätigung der deutschen Identität Erst ab 1945 wird die Sprache ih res emotionalen Gehaltes enthoben und primär zu einem Kommunikationsinstrument.

8• In der Forschung ist nach wie vor die Frage, inwieweit das Österreichbewußtsein 1945 in der österreichischen Bevölkerung selbst verankert war, als offen zu bezeichnen. Gerhard Botz formuliert: „Sehr artikuliert und in die Tiefe gehend kann es noch nicht gewesen sein.“

Die in der Zweiten Republik durchgeführten Meinungsumfragen zur Frage der österreichischen Nation bestätigen diese Tatsache. Noch 1956 waren 46 Prozent aller Österreicher der Meinung, die Österreicher gehörten zum deutschen Volk, nur 49 Prozent bekannten sich damals zu einer österreichischen Nation (Volk). Die Umfragen zeigen seither einen deutlich ansteigenden Trend. 1980 bekannten sich bereits 67 Prozent zu Österreich als Nation, und nur elf Prozent verneinten dies.

Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß für das österreichische Nationsbewußtsein die entscheidenden Phasen nicht unbedingt nur in den Jahren 1938 bis 1945’ge- sehen werden können. Für die jüngsten Zahlen kann sicherlich auf die von der Neutralitätspolitik ermöglichte internationale Fe- stigung Österreichs und die wirtschaftlichen Erfolge verwiesen werden.

9• Auch die Frage der unter-

schiedlichen Stellungnahmen sowohl der österreichischen Exilgruppen im „Dritten Reich“ wie auch der österreichischen politischen Lager zur österreichischen Nation hat dazu beigetragen, daß eine Diskussion um den Nationsbegriff von einer konfliktvermeidenden Politik des Bekenntnisses zum umfassenden Begriff Österreich überdeckt wurde.

Ein wichtiges Element dieses Österreichbewußtseins bestand in den literarischen Stellungnahmen von österreichischen Schriftstellern im Exil. Aber selbst dieses literarische Österreichbewußtsein, etwa von Joseph Roth, Alfred Polgar, Stefan Zweig und Franz Werfel, führte nur zögernd zu einer Auseinandersetzung um eine „subjektive“ (kulturelle) Selbständigkeit Österreichs.

10. Die zum Mythos gewor- dene Einschätzung des Jahres 1945 als „Stunde Null“ ist als die rational nachvollziehbare Sehnsucht nach einem völligen Neubeginn — auch als Abgrenzungsstrategie gegenüber der Teilnahme am „Dritten Reich“ — interpretierbar und als Mythos für manche Verdrängungsmechanismen nach 1945 dienlich. Beide Mythen entsprachen indes nicht den ersten politischen Handlungen in Österreich, die eine eigentümliche Gemengelage von „Neuem“ und „Altem“ schufen.

Gerald Stourzh weist unter anderem unter Berufung auf die ra-

sehe Rückkehr zur Bundesverfassung in der Form von 1929 darauf hin, daß am Anfang der Zweiten Republik nicht nur Neues, sondern viel „Altes“ stand:

„Das freudige Wiederfinden von Verlorenem, dessen man beraubt worden war, steht am Ursprung der positiven Identifizierung des Österreichers mit etwas, was wir mit Recht als Nationalbewußtsein bezeichnen können. Dies zeigte sich in zahllosen Details — in der Wiederherstellung und Wiederbenützung verlorengegangener Amtsbezeichnungen; es gab die Wiederkehr zu den alten österreichischen Uniformen bei Gendarmerie und Polizei. Nach 1945 wieder den ersten österreichischen Reisepaß zu erhalten — der genauso aussah wie vor 1938 —, war, um aus persönlicher Erinnerung zu sprechen, ein beglük- kendes Erlebnis“ (Gerald Stourzh).

Auch die Länder boten in dieser Hinsicht „wiederauffindbare“ Identifikationsmerkmale. Das

Burgenland, in der NS-Zeit zwischen Steiermark und „Niederdo- nau“ auf geteilt, strebte nach einer Einheit. Das an Kärnten angegliederte Osttirol wollte zu Tirol zurück; das Ausseerland — vor 1945 bei Oberösterreich — strebte wieder zur Steiermark; Vorarlberg und Tirol wurden wieder getrennt.

Das Wiedererlangen verlorener Identität klingt für Wien bereits in der Unabhängigkeitsproklamation vom 27. April 1945 an: der Anschluß von 1938 habe „Österreichs Hauptstadt Wien, die vielhundertjährige glorreiche Residenzstadt“, zu einer Provinzstadt degradiert.

Derartige Empfindungen des Verlustes erleichterten den Prozeß einer auch willensmäßigen Zuwendung nicht nur zur österreichischen Eigenstaatlichkeit, sondern auch zu einer Nation Österreich.

Der Autor ist Historiker und Leiter des Büros des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung.

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