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Der Leere-Töpfe-Aufruhr

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„Wir Chilenen haben noch nie so oft geweint wie in den letzten Wochen“, sagte ein Student auf der Avenida Bernardo O'Higgins. „Wir weinen wegen des Tränengases, das die Luft verunreinigt.“

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„Wir Chilenen haben noch nie so oft geweint wie in den letzten Wochen“, sagte ein Student auf der Avenida Bernardo O'Higgins. „Wir weinen wegen des Tränengases, das die Luft verunreinigt.“

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Wahrhaftig: Tränengas und Aufruhr verpesten die Luft der chilenischen Hauptstadt, die drei Millionen Einwohner zählt. Die Lage in Chile ist sehr ernst. Geklirr, Steinhagel, Scharmützel und Krawalle sind für den Alltag in Santiago charakteristisch, auch in der Stadt Concepciön und in anderen kleineren Städten gibt es Zusammenstöße zwischen Studentengruppen, woran manchmal Tausende von Hochschülern teilnehmen, die mit Stöcken und Steinen bewaffnet sind. Zahlreiche Personen wurden schon bei solchen Anlässen getötet, unter ihnen ein 17jähriger Bursch, der gerade seinen Onkel besuchen wollte, ein 21 Jahre alter Student, ein Arbeiter aus einem Hüttenviertel und drei Bauern. Der Aufruhr hat das ganze Land erfaßt. Die Regierung mußte bereits im August und im September den Notstand in Santiago, Concepciön und Magallanes ausrufen, dann auch in den Bio-Bio-Provinzen. Magallanes liegt 2300 km südöstlich von Santiago, in jener Südzone, die früher ein Bollwerk der extrem linken Parteien war, die als Koalition „Volkseinheit“ 1970 die Wahlen mit 36,6 Prozent der Stimmen gewonnen haben und Dr. Salvador Allende ins Amt des Präsidenten gebracht haben.

„Präsident Allende ist der Hauptverantwortliche für das, was hier geschieht“, bestätigte Senator Renan Fuentealba, der Präsident der oppositionellen Christdemokratischen Partei. „Er hat die .Volkseinheit' niemals wirklich kontrolliert, da er nur ein Teil ihres kollektiven Mechanismus ist, und er ist in seiner eigenen Partei durchgefallen.“ Mittlerweile bestätigten die Führer der Nationalen Partei (konservativ), der Demokratischen Nätionalpartei (rechts), der Radikaldemokraten (rechts Mitte) und der Radikalen Linken (Mitte), daß „die Regierung das Land immer schneller in eine totalitäre Diktatur führt.“

Präsident Salvador Allende sparte in den vergangenen Wochen nacht mit Zeitungisinterviews und Radioerklärungen, um seinen Standpunkt zu erläutern. Er leugnete den Aufruhr, behauptete, daß nur „die Faschisten auf die Straße gingen“, kritisierte aber dennoch „aufrührerische Elemente von links“, die den langsameren Weg zum Sozialismus Allendes und seiner Koalitionspartner ablehnten und unter denen sich auch die moskautreue Kommunistische Partei befinde. Nach Präsident Allende sei es hingegen möglich, „den Pfad zum Sozialismus mit Hilfe des Pluralismus, der Demokratie und der Freiheit zu ebnen“.

Als ein Polizist in Concepciön von einem Heckenschützen getötet wurde, appellierte die örtliche Polizei-kommandatur „an das Gewissen aller politischen, Arbeiter- und Stu-dentenorganasationen, die davon Abstand nehmen mögen, auf die Straße zu gehen“.

Jede Woche wurde ein neuer Streik ausgerufen; die Kleinhandelsgeschäfte schlössen 24 Stunden lang, Universitäts- und Hochschulstudenten streikten und einzelne Kupferminen streikten ebenfalls. „Hungermärsche“ formten sich, und an manchen Abenden waren die Straßen vom Lärmen der Hausfrauen erfüllt, die „Leere-Töpfe-Proteste“ veranstalteten.

Die Ursache der Unruhe und des Aufruhrs ist eher wirtschaftlicher als politischer Natur. Seit dem November 1970, als Präsident Allende die Zügel übernahm, erlebte Chile die schwerste Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Das Regierungsgebäude trägt ironischerweise den Namen „La Moneda“ (die Münze), aber die Staatskasse ist ohne Moneten, nämlich vollkommen leer. Laut Statistik stieg der Lebenshaltungsindex im August 1972 um 22,7 Prozent gegenüber dem Juli. Lebensmittelmangel ist zum Charakteristikum des chilenischen Alltagslebens geworden. Die Regierung versucht, diese Mängel als Konsequenz der notwendigen „neuen sozialistischen Maßnahmen“ zu begründen. Alles für Chiles bessere Zukunft. Anläßlich einer Arbeiterdemonstration sagte Präsident Allende verlegen: „Die chilenischen Arbeiter haben immer noch bewiesen, daß sie Chiles Interessen vor ihre eigenen stellen.“

Die Opposition sieht es anders und meint, daß wirtschaftliche Probleme nicht mit „Unterdrückung, Drohungen, Aufrufen und revolutionärer Lyrik“ gelöst werden könnten und daß die Regierung für Hunger und Not verantwortlich sei. „Solange keine wirtschaftliche Normalisierung erfolgt, wird das chilenische Volk den Protest fortsetzen.“ Ein Führer der Opposition, der christlich-demokratische Senator Juan Hamilton, forderte Präsident Allende auf, zurückzutreten, um das Land vor einem Bürgerkrieg zu bewahren.

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