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Der letzte Nonkonformist

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Wenn es, verblüffenderweise, im Jahr 2000 noch denkende Menschen geben sollte, dann wird man unsere Epoche, die in den kommenden Krisen wohl zu Ende gehen dürfte, vielleicht als eine wesentlich konformistische charakterisieren. Man wird das — im doppelten Wortsinn: duldende — Arrangement der Massen mit dem Terror eines Stalin und eines Hitler, aber auch mit dem Terror des Journalismus und der Werbung erinnern. Man wird gewiß auch des paradoxen Phänomens gedenken, daß die Outsider nur noch herdenweise auftraten: auf den Beat-Festivals wie in den studentischen Demonstrationen. Es war — wird man sagen — weder eine Zeit der einsamen Genies noch eine der Käuze, der Sonderlinge, der Originale: keine Zeit für einen Georg Trakl, keine Zeit für einen Anton Kuh. Der Aufschrei der zutiefst verletzten Menschenseele entrang sich — wird man feststellen — nicht mehr den tatsächlich Erniedrigten und Beleidigten, sondern den Presseorganen der jeweiligen Mehrheitspartei, die sich damit, im Fauteuil vor dem Bildschirm verkrüppelnd, ihre ge-ragezu avantgardistische Fortschrittlichkeit attestieren ließ.

Man wird auch, und zwar schon als Maßstab, die Ausnahmen zitieren, die mit ihrer Existenz bezeugten, daß jener Zeitgeist nicht ein Verhängnis war wie die Maul- und Klauenseuche fürs liebe Vieh, sondern Folge des Verzichts auf Geschichtlichkeit, wie sie sich insbesondere in der Vergötzung der Jugend, des Jungseins, dokumentierte: das angemaßte Original darf eben keine Eltern, geschweige denn eine ganze Ahnenkette haben.

Und man wird dann Manes Sperber zitieren, vor allem seine Autobiographie, deren erster, jetzt vorgelegter Teil von seiner Kindheit und schon deshalb, aber nicht nur deshalb, auch von seinen Vorfahren handelt, und das sind die Juden, also immerhin dreieinhalbtausend Jahre Menschheitsgeschichte. In einem ga-lizischen „Städtel“, also in einer sich selbst nie in Frage stellenden Form der jüdischen Existenz vor Hitler, ist er geboren und aufgewachsen, unter der Toleranz der alten Monarchie; die „Niedertracht der Maj-rität“ hat der jüdische Bub denn auch nicht an sich oder seinesgleichen erstmals erfahren, sondern in der Demütigung eines ruthenischen Knaben durch polnische. Das war dann erst in Wien, daß irgendein Kerl seine brennende Zigarette im Nacken des damals Elfjährigen ausgedrückt hat. Brussilows Offensiven hatten die Familie aus Zablotow (am Pruth bei Czernowitz) auf die Wanderschaft gejagt, bis in den 2., den jüdischen, Wiener Gemeindebezirk. Im „Städtel“ brauchte man nicht unbedingt an Wunder zu glauben, man konnte sich trotzdem geborgen fühlen in der gelebten Tradition. Anders in Wien: „Die bewußte oder unbewußte Toleranz zur Assimilation machte einem entschiedenen Willen zum tätigen Judesein Platz, doch gleichzeitig entfremdete sich die junge Generation der älteren und geriet in offenen Gegensatz zur überlieferten Lebensart und damit zu ihren Eltern ... Sie hatten befürchtet, ihre Kinder könnten sich vom Judentum und damit von ihnen selbst entfernen. Das letztere' geschah, aber nicht, weil ihre Kinder sich assimilierten, sondern weil sie anders sein wollten als ihre Väter und Mütter.“ Damit ist, übrigens in wenigen Zeilen, auch das Problem umrissen, an dem das heutige Israel wahrscheinlich schwerer zu tragen hat als an dem permanens ten Kriegszustand: „Das Auseinanderklaffen einer ursprünglich einheitlich sozio-religiösen Kultur in ihre soziale und religiöse Komponente“, wie Willy Guggenheim treffend gesagt hat.

Dem Messias ist Manes Sperber, auch wenn er früh den Gebetsschal abgelegt hat, dennoch treu geblieben, wie sehr viele andere Juden seiner Generation. Aber statt seine Ankunft nur zu erwarten (oder durch Sündigen herbeizutrotzen, wie die Frankisten das taten) sollte dieser Ankunft nun vorgearbeitet werden: durch revolutionäre Aktivität. So geschah dem zwölfjährigen Buben in der tristen Leopoldstadt, was damals im ganzen Ostjudentum wie auf — und doch ohne — Verabredung sich vollzog: die schöpferische Verquickung von messianistischer und sozialistischer Heilserwartung. Bezeichnend, in diesem Zusammenhang, die Erinnerung des Autobio-graphen, daß etwa Kropotkin mit seiner „Gegenseitigen Hilfe“ mehr Einfluß geübt hat als Marx. Dessen wissenschaftliches Gehabe paßte offenbar nicht einmal in einen säkularisierten Messianismus hinein.

Aus den anderen Büchern von Manes Sperber — den Romanen so gut wie den Essays — ist bekannt, wie jenes frühe revolutionäre Engagement geendet hat: in dem Bezug einer allseitig kritischen und ebenso allseitig menschenfreundlichen Position, oder kürzer gesagt: im totalen Nonkonformismus. Ganz kurz: im Konkreten. Wann, wo und wie diese Position begründet worden ist: das erforscht der Verfasser für sich wie für uns in dieser Erzählung seiner Kindheit. Daher die Wichtigkeit dieses Buches, für uns noch viel mehr als für ihn. Doch kein fühlender Leser wird über dem Wichtigen jenes andre vergessen: das „Städtel“, das nur „diskontinuierlich und mit Verspätung und nur am Rande von der Urbanen Zivilisation beeinflußt wurde“ und dennoch der Nährboden „einer hohen spirituellen Kultur“ war — einer Kultur, die wir, in unseren vollklimatisierten Wohnblocks, abschiednehmend noch einmal die abendländische nennen sollten: in der die Menschen noch ungleich sein durften, weil sie gleich waren vor — das heißt: durch — Gott.

DIE WASSERTRÄGER GOTTES. Von Manes Sperber. All das Vergangene ... 259 Seiten, DM 25,—. Europa-verlag, Wien.

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