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Der letzte Zue nach Patna …

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„Twelf Down“ — die großen Züge haben ihre Namen, und die großen Lokomotiven. Abfahrt Delhi — Junction 14 Uhr, Ankunft Patna 20 Uhr am nächsten Tag. Aber wird der „Twelf Down“, mit dem ich fahre, in Patna noch rechtzeitig ankommen? Werden sie ihn durchlassen? Auf den Kessel der Lokomotive hatten Eisenbahner „Last Train to Patna“ geschrieben: letzter Zug nach Patna. Die Uberschußpassagiere hängen auf den Dächern der Waggons wie lebende Teppiche. Vor Patna werden wir auf freier Strecke immer wieder auf gehalten; einmal von Streikenden, dann von Soldaten. Mein „Twelf Down“ kam in Patna gerade noch rechtzeitig an. Fünf Minuten nach Mitternacht. Der Bandh hielt seit Mitternacht die Stadt nieder: drei Tage totalen Stillstands, drei Tage totaler Abgeschlossenheit von der Welt hatte eine in ihrer Verzweiflung plötzlich geeinte Opposition über Patna verhängt. Und mit seiner Hauptstadt soll der ganze Staat Bihar zum Stillstand kommen. Und der Stillstand von Bihar soll ein Fanal für die anderen Staaten der Indischen Union werden. Ein Satyagraha, ein gewaltloser Widerstand, um langsam und von den Provinzen her dem Unionsregime der Indira Gandhi die Luft abzuschnüren.

Die Stadt Patna fügte sich, sowohl aus Angst vor dem Studententerror der Opposition, als auch aus Empörung über die immer mörderischer werdende Korruption der Regierenden. Es fuhr kein Zug, kein Auto, kein Autobus. Post und Telefon waren unterbrochen. Strom gab es insgesamt drei Stunden lang. Wasser gab es von den vergangenen

Fluten noch in den Pfützen, aber die Leitungen waren trocken. Selbst die Zehntausenden von Rikschas, aonst wie kopulierende Mistkäfer überall umherschwärmend, standen wie angenagelt still. So paralysiert, abgeschnitten von der Umwelt, sollte die Staatsregierung von Bihar zum Rücktritt, sollte das Parlament von Bihar zur Selbstauflösung gezwungen werden. Und mit der Kongreßregierung in Bihar sollte ihr Schattenregime zerstört werden: mit Spekulation, Korruption, mit all den Apparaten zur Auswertung und zur Fabrikation von Hunger und Not. In jedem der 21 Bundesstaaten sitzt eine Kongreßregierung fest im Sattel, doch daneben und mit ihr regiert das Schattenregime. Bihar ist der rückständigste Staat, das schwächste Kettenglied der Staaten der Republik Indien.

Jayaprakash Naraian steht an der Spitze: 72 Jahre alt, hochgewachsen, asketisch, lehrerhaft und — zum Unterschied vom Mahatma — uneins mit sich selbst, mit seiner Rolle. Doch ,JP* allein kann erwirken, daß diese von Zehntausenden egozentrischer Brahmanen-Narzissen zer-

spaltene Opposition zumindest für kurze Zeit in einen Strom des Widerstands zusammenfließt. Er hat die Legitimation des Veteranen des Freiheitskampfes, der engen Gemeinschaft mit dem Mahatma, er ist makellos geblieben und durch die obligaten .Wundertaten* zum politischen Guru gestempelt. Die Studenten von Kalkutta brachte er — gemeinsam mit Sen Gupta — von der selbstmörderischen Rebellion der Naxaliten ab; ein Tal voller Dakoits, Wegelagerer, Räuber und Mörder bewog er, die Waffen niederzulegen und den Beruf zu wechseln.

Jayaprakash Naraian hält die Zeit für reif. Ich fürchte, sie ist überreif. Vom Zug ging ich in sein Haus am Stadtrand und es war fast schon das Morgengrauen und er war noch wach. Unten, im Keller, surren die Spinnräder, denn wie die Männer um Gandhi nehmen die Männer um Na- raia die zwanzig Minuten am Spinnrad als tägliche Pflicht, und wenn der Tag zu kurz war, dient dazu eben die Nacht. ,JP’ spricht ganz ohne Pathos, freilich auch ohne den Humor des Mahatma. Macht und Korruption sind schon unlösbar ineinander verwachsen. Amputierte man die Korruption, dann stürbe auch die Macht. Wer könnte von der politischen Macht die selbstmörderische Amputation erwarten? Das Ineinanderverwachsen des Sechshundertmillionenvolkes und des Territoriums von drei Millionen Quadratkilometern, mit Riesenadministrationen als parasitäre Kreisläufe und einer Riesenindustrie als Nimmersatt und Allesfresser war Nehrus Werk gegen Gandhis Vision eines Indien der wachsenden Gemeinden und Gemeinschaften. Jetzt ist das irrepa-

rabel. Die Hungernden und die Hoffnungslosen müssen ihre eigenen Gemeinden bilden, um mit ihnen Nehrus Golem (er sagte wahrhaftig Golem) und Indiras Staat entgegenzuwirken. Denn: „Diesem Staat aus Macht und Korruption ist die Aufrechterhaltung der Not zur Lebensnotwendigkeit geworden.“

Und JP hält Bihar für reif, dereinst Ausgangspunkt der neuen Bewegung zu werden. Aus diesem Teil sind die festesten Mitkämpfer Gandhis gegen die Unbertihrbarkeit gekommen, die unerschrockensten Unberührteren. Doch nach der Befreiung wurde Bihar die Metzgerei Indiens, mörderischer als in jedem anderen Staat fielen Hindus und Muslim übereinander her. In der feuchten Luft sind die Dünste aus diesen Tagen noch nicht verflogen. Jetzt ist Bihar im Norden ein Dschungel, wo das Faustrecht des Dorffeudalismus gilt und Hindukasten wie Wolfspacks die ,Harijans’, die Landlosen, die Unberührbaren bedrängen; und im Süden ist Bihar ein industrieller Dschungel, wo in Kohlebergwerken und in Stahlwerken eine korrupte Werksbürokratie und gewerkschaftliche Freibeuter gegeneinander kämpfen, doch gemeinsam so gut wie die gesamte Produktion unterbinden.

J. P. Naraian glaubte, den Zeitpunkt und den Ausgangspunkt seiner zweiten Revolution richtig gewählt zu haben. Tatsächlich erwachte dieses Patna am ersten Morgen der großen Aktion aus lebenslangem Siechtum zu erstaunlicher Hoffnung. Doch als die drei Tage vergangen waren, am Ende der großen Aktion, wurde Patna wieder die siechende Stadt der 900.000 Menschen; 70 Prozent Arbeitslose, 30 Prozent Tuberkulose, Leprose, Krüppel. Mit den ersten Rikschas, die am Morgen nach dem Bandh wieder fuhren, war die Hoffnung verflogen. Narayan hat die Rebellion erfolgreich geführt. Nur — das Programm hat er zu entwerfen vergessen. Das ,Was nun?* blieb unbeantwortet.

Am Bahnhofsplatz fragt man sich, durch wieviele Städte ich gekommen sei, um endlich hier die trostloseste zu finden. Am nächsten Morgen erwacht man, weil die Stunde der Strombelieferung krachend den Deckenventilator in Betrieb gesetzt hat. Dem fehlten aber zwei von seinen drei Flügeln. Und mit dem einen, der ihm geblieben war, drehte er sich wie ein verwundetes Insekt sinnlos um seinen Stummel. Unter dem durchlöcherten Moskitonetz denkt man: So also muß die Stadt sein, in der dann doch die Infektion kommt! Und irgend ein Mann sticht noch mit einer Injektionsspritze am schwitzenden Körper herum. So also wie Patna mußte die Stadt sein, in der man bleibt.

In die Stille der Stadt kamen am Morgen des ersten Tages des

„Bandh“ Demonstranten von allen Seiten, ausgemergelte Intellektuelle immer an den Spitzen der Züge, hinter ihnen Bauern; hunderttausende Bauern und Dorfarme, barfuß. Die Studenten hatten für Festillumination gesorgt und die zwei Benzinlager der Stadt entzündet. Dort wo die Stadt sich New City nennt, formte sich der große Zug. Schweigend zogen sie alle dem hageren Manne nach, Jayaprakash Naraian, dem Prachtviertel der Regierungsgebäude und der Ministerwohnungen zu. In kolonialen Zeiten muß das eine herrliche Straße gewesen sein, zwei weite Bahnen, in der Mitte ein grüner Park. Jetzt ist das alles nur mehr alte Herrlichkeit. Am Ende der Straße der Stammplatz eines leprösen Bettlers. Sein Lalalala-Lalalala aus gelähmtem Mund begleitete die Prozession bis vor die Tore der Regierungspaläste und ging erst im Sprechchor „Jai- prakash Zindabad“ („Hoch Jaipra- kash“) unter. Der erste Tag war ein voller Erfolg. Nicht nur Patna stand still, auch die Arbeit in den Regierungsgebäuden. Die Minister hatten sich in ihren Häusern verbarrika-

diert. 35 Millionen Menschen waren ohne Regierung. Um den Ring von kauernden Demonstranten stand freilich ein fast so dichter Ring bewaffneter Soldaten und Polizisten. Ahimsa, Gewaltlosigkeit, galt für die Demonstranten, Nonkonfrontation galt für die Exekutive.

Der zweite Tag begann so friedlich wie der erste geendet hatte. Gegen Mittag versuchten Eisenbahner auf einer Lokomotive sich über eine sonst stillgelegte Bahntrasse in die Stadt zu schleichen. Damit wäre der „Bandh“ gebrochen gewesen. Der symbolische Durchbruch hätte der Demonstration, dem „Bandh“, die Gültigkeit geraubt. Demonstranten legten sich vor die Maschine. Und andere tauchten plötzlich aus der kasbahartigen Old City auf; sie begannen sofort die Bahntrassen zu demolieren, die Polizei zu attackieren, geschlossene Läden aufzubrechen, zu plündern. Das war Provokation — und sie erzielte ihre Wirkung. Der Lokführer wurde von den Naraian-Studenten gefangen. Er war als ein Mitglied der AITUC, der (moskau-)kommunisti- schen Gewerkschaft bekannt. Führer der Stürmer aus der Old City wurden von den Naraian-Studenten gejagt und gefangen — und einige trugen die roten Hemden der Freiwilligenverbände der Kommunistischen Partei Indiens; der Partei, die sich dem Indira-Regime als die Faust gegen jede Opposition — „Faschisten und CIA-Söldner“ — angetragen hat.

An dieser Provokation zerriß die Gewaltlosigkeit der Demonstranten und die Zurückhaltung der Polizei. Die Polizeisalven, tägliche Geräuschkulisse der indischen Politik,

vervielfachten ihre Wirkung auf dem Katzenkopfpflaster. Die Polizei sprach von 17 Getöteten; ich lief nach den Salven in das Medical College Hospital am Rande der Old City. Und ich sah dort, wie hunderte angeschleppt, angekarrt wurden. Auf einem Moped saßen ihrer drei. Als das Moped im Spitalshof stoppte, rutschte der in der Mitte tot vom Sattel. Die Ärzte schätzten um drei Uhr nachmittags, daß mehr als 70 gestorben seien. Das Schießen pflanzte sich fort, vor der Stadt, auf den Dörfern, starben Menschen, bis die Dunkelheit kam; und mit der Dunkelheit das Ausgangsverbot und noch eine kurze Zeit lang Hasenjagd, von Polizeilastautos aus.

Der dritte Tag des „Bandh“ war wie Sommersonne nach einem Gewitter. Und die große Aktion fand ihr Ende im Abendgespräch eines Weisen zu seiner Klientel von Millionen Menschen. Stadt und Regierung hielten sich jetzt an den Stillstand. Die Demonstranten buchten es als Sieg und dankten ihrem politischen Guru. Ursache und Ziel waren freilich etwas vage geworden. Und von einer Auflösung des Regierungs und Machtapparates in diesem dunklen Staate Bihar konnte keine Rede mehr sein. Am Abend aber, bei der großen Massenversammlung auf dem Gandhi-Maidan, erwartete man von ihm die Verkündigung. Und eine Massenversammlung wurde es. Stunden- und tagelang waren die Dorfarmen aus den entfernten Orten zu Fuß und barfuß nach Patna gewandert. Von Horizont zu Horizont schwarze Haare, Kopf an Kopf, große Augen aus dunklen Gesichtern auf den Lehnstuhl gerichtet, der auf einem Podium hoch über der Menge stand. Doch es kam kein Gandhi, es kam kein „Was nun?“. Ein alter Herr, in blütenweißes Linnen (Handwebe natürlich) gehüllt, hielt sein langes und kultiviertes Abendgespräch. Jetzt sah Jayaprakash von oben keine glühenden Augen mehr auf sich gerichtet. Die meisten hatten ihre Gesichter in Langeweile und in Enttäuschung zu Boden gesenkt. Im Gespräch spielte JP natürlich sein Repertoire ab. Die Erschossenen des vergangenen Tages waren ihm nur einen halben Satz wert. Und am nächsten Morgen hinkte eine ramponierte Stadt in ihren trostlosen Alltag zurück.

Natürlich fragte ich beim Abschied Jayaprakash: Wo bleibt das „Was nun?" Er sagte, das brauche noch einige Tage Zeit. Und ich sagte: „Schade, daß den vorgestern Erschossenen nicht noch einige Tage gegeben waren, damit sie es wenigstens erfahren hätten.“ Und Peter Alvarez, ein Sozialist aus Goa, verstand und sagte etwas von europäischer Ungeduld und europäischer Sentimentalität. Wie unpassend dergleichen sei in einem Land der sechshundert Millionen und der wenigen Jayaprakashs! Und er sagte es ironisch und bitter. „Hier fragt man nicht so schnell ,Was nun?*. Und die Antwort braucht viel länger. Und was in der Zwischenzeit unter die Räder kommt…“ Er spricht es nicht aus.

Sicher werden da und dort Auf-

stände aufflammen. Sicher wird Jayaprakash seine Satyagraha weiterführen und vielleicht wird er diesen gewaltlosen Widerstand wieder zur scharfen Waffe machen. Doch die Landlosen in den Dörfern, und das sind in Bihar 80 Prozent der Menschen, kommen durch Flut und Teuerung und Spekulation dem Nullpunkt immer näher, und wenn man zu nahe dem Nullpunkt ist, denkt man an nichts mehr, am wenigsten an irgend einen Widerstand. Und die Gegner des JP sind nicht mehr die Gegner, die dem Mahatma gegenübergestanden sind. Die Einheit hat es nur gegen die Fremden gegeben. Und auch Satyagraha wurde nur gegen die Engländer erprobt. Sind die fremden Herren fort, gilt fast fraglos die Gewalt der bodenständigen Hierarchie. Je mehr Auflehnung man hier erlebt, desto sicherer weiß man: Das Land ist fest und sicher in den Händen der Indira Gandhi und ihrer Schattenregierung. Und nur einem Menschen könnte es vielleicht doch gelingen, langsam die Macht und die Zahl der kannibalischen Mitregenten zu verringern.

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