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Der Lieferstreik des Dorfes...

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„Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Dieser Leitsatz galt einst der Stärkung des proletarischen Klassenbewußtseins. Heute droht die Verwirklichung des Machtanspruches aus einem mutierten Klassenkampf. Aus der Hybris von Marxismus und Nationalismus in Asien und aus echtem Gegensatz entstand der „Klassenkampf“ der Rohstoffproduzenten gegen die Besitzer der Produktionsmittel, die Industriestaaten. Standen einst die Räder im Klassenkampf still, so wurde die Kartoffelsuppe auf den Proletariertischen dünn. Sehr selten standen alle Räder still; seit dem Kapp-Putsch im Deutschland von 1920 in historischer Stunde nie mehr. Doch der Lieferstreik der Erdölländer droht heute den alten Machtspruch der Proletarier zu erfüllen. Die Erdölstaaten haben ihre Nahrungsmittel, die Scheichs ihre Devisen gesichert und deren Ware ist nicht wie die „Ware Arbeitskraft“ ersetzbar.

Wo Armut und Devisenmangel das Erbgut sind, in den Nachbarstaaten der reichen Erdölländer, sieht man in den Erfolgreichen die eigene Avantgarde. Die Solidarität der neuen „Klassenfront“ verbindet die hilflosen, vom Westen abhängigen Staaten mit den Nutznießern am Rohstoffbedarf des Westens. In Pjöngjang, in Hanoi, auch in der Führungsgruppe des krisenerschütterten New Delhi triumphiert man, gemeinsam mit den Erdölreichen. Selbst antikommunistische Regimes entwickeln „Klassenkampfbewußtsein“. Die Generäle um den Präsidenten von Indonesien halten es mit den Investoren aus dem Westen. Und die von den Generälen erfolgreich geführte Erdölgesellschaft „Pertamina“ sucht aus der Liefersperre des Nahen Ostens durch intensivere und verteuerte Erdöllieferungen an den Westen zu profitieren. Außenminister Adam Malik, ein Antikommunist der „blocklosen“ und „afroasiatischen“ Spielart, möchte aber Indonesien in das Kielwasser der Nahost-Erdölländer steuern. Breschnjews Asienpläne setzen das „Klassenbewußtsein“ der asiatischen Feudalherren und Politiker taktisch ein. Die sowjetische Furcht vor dem eigenen Zauber entschärft bei Explosionsgefahr dann die akut gewordenen Krisen.

Doch voller Hoffnung und voller Genugtuung empfinden die von ihrer jungen Freiheit Enttäuschten und dn ihrer Entwicklung Fehlgegangenen den Angriff der Erdölstaaten, der Mächtigen und der Reichen unter den Völkern Asiens, als eine Manifestation der Macht Asiens und der Verwundbarkeit des Westens. Und im falschen Glanz des romantischen Klassenkampfes vom Osten her zeichnen sich die Konturen der dunkelsten Zeit Europas ab. Der Haß des völkischen Spießers gegen die „Masse Mensch“ der „Gelben Gefahr“ wird zum Haß der vom Westen — und von sich selbst — noch nicht Befreiten Asiens gegen die industrielle Welt. Mao Tse-tungs Politik der revolutionären Erlöserrolle des flachen Landes gegenüber der Stadt hat in ihrer Projektion auf die asiatische Revolution zumindest vorderhand ihre große Kraft verloren; doch die Mächte des Erdöls haben die Kraftprobe mit den Mächtigen der Industrie gewagt.

Unter vielen Namen, unter vielen Fahnen ist die Mutation des Marx-schen Klassenkampfes vor sich gegangen und sie erstreckte sich fast über sechs Jahrzehnte. Mit Lenins „Imperialismus, höchste Stufe des Kapitalismus“ als Leitfaden schufen Radek, Sinowjew, zuletzt Stalin die ideologischen Voraussetzungen. Auf der entgegengesetzten Seite hatten die patriotischen Geheimgeselilschaf-ten in Japan die Asienbefreiung unter der Fahne der aufgehenden Sonne durch zahllose Konspirationen in ganz Ost- und Südostasien vorbereitet. Im Zweiten Weltkrieg sollte die „Südostasiatische Kopro-speritätszone“ der japanischen Armee ein Durchbruch zur Erfüllung der Forderungen im „neuen Klassen-

kämpf“ sein. Den „Neuen Klassenkampf“ nannten die Philosophen und Dichter der patriotischen Offiziere des kaiserlichen Japan ihren Krieg gegen die Kolonialherrschaft, gegen den Imperialismus der westlichen Industriestaaten. Beide Kräfte, Moskau und Tokio, einander bekämpfend, sich ergänzend, besorgten und erwirkten die Befreiung.

Doch mit der Erkenntnis der Kontinuität ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Industriestaaten auf diesem so fremden Weg zur eigenen Industrialisierung entstanden in den befreiten Staaten stets neue Herde des Klassenkampfes gegen die Staaten, die man durch ihre Vergangenheit als „Kolonialisten“ und ihre Gegenwart als „Imperialisten“ der ausschließlichen Schuld bezichtigte und als repara-tionspflichtig empfand. Es ist kein Zufall, daß der Geist — das Gespenst vielmehr — von Sukarnos Afroasiatischer Konferenz von Ban-

dung aufersteht. Gleichzeitig mit der Vorbereitung der Erdölkräfte zum Schlag, lange vor dem Ausbruch des neuen Israelkrieges, wurde das „Recht der armen Staaten auf Neuaufteilung der Güter der Erde, die Pflicht der Industriestaaten, die Produkte aus den Rohstoffen der Armen gerecht zu verteilen“', ein Hauptmotiv in Indira Gandhis gescheitertem „Krieg gegen die Armut“ Indiens.

Die Länder des Erdölbesitzes sind jüngst aus dem Meer der asiatischen Armut getauchte Inseln des Reichtums. Aus ihrer Nachbarschaft holen sie Profite wie aus dem Westen. Der Irak des Baath-Sozialistischen Regimes ermutigte Indien durch Erdölverträge zum Bau einer neuen Raffinerie. Mit sowjetischer Hilfe soll diese im Laufe des fünften Fünf jahresplanes entstehen; kaum waren die Baubeschlüsse gefaßt, setzte der Irak mit Preissteigerungen von 30 bis 50 Prozent ein. Die Erdölkrise nimmt die asiatischen „Klassengenossen“ ebenso her wie

den Westen. Indira Gandhi fährt, Beispiel für ihr Volk, mit der Pferdekalesche, einem Landauer, täglich von ihrem Wohnsitz in das Regierungsviertel von New Delhi — freilich von dutzenden Polizeifahr-zeugen begleitet. Doch in den Staaten der Armut nimmt man die Willkür der Mächtigen immer noch ziemlich wortlos hin, handelt es sich um „Klassengenossen“ im Kampf gegen die „Produktionsmittelbesitzer“ im Westen. Die Erdölbesitzer begründen ihre Preise mit einer „Weltpolitik des Erdöls“; ein Teil dieser Weltpolitik ist es, die Macht des Westens zu brechen, dem Westen seine Abhängigkeit vom Osten zu beweisen. Sie können mit der Solidarität ihrer „Klassengenossen“ rechnen, wenn sie mit der direkten Aktion einsetzen, mit dem Lieferstreik gegen den Westen.

Als erste Gruppe boten sich die Industriestaaten des Westens, die Staaten der EG, als die geeigneten Objekte für eine demonstrative Kraftprobe an. Da laufen die Räder der Konjunktur auf höchsten Touren. Die Gefahren einer Rezession wären verheerend. Das Problem des Motorfahrzeugs, Fetisch der Anti- und Pro-Motoristen, ist nur von sekundärer Bedeutung. Das Problem einer Arbeitslosigkeit durch Energieschwäche ist hingegen ein Existenzproblem. Frankreich und Italien müssen ihre Vollbeschäftigung unter dem Druck mächtiger kommunistischer Parteien aufrechterhalten. Der EG-Staaten ambivalente Haltung gegenüber den USA, ihre internen Wirtschaftsauseinandersetzungen, empfehlen sie den ölbesitzern als ideale Objekte für die Applikation von Lenins Rezept der Ausnützung der Gegensätze zwischen den Imperialisten im Klassenkampf. In Erkenntnis der Gefahr fanden sich zum erstenmal die EG-Staaten zu einer gemeinsamen Aktion zusammen. In Erkenntnis der selbstmörderischen Folgen von Repressalien schritten sie gemeinsam — einem neuen München zu. Es könnte das Anfangsglied

einer Kette sein. Die Staaten mit den weniger wertvollen und lebensnotwendigen Rohstoffquellen beobachten die Kraftprobe und schöpfen Hoffnung.

Aussperrung war die klassische Repressalie der Industrien gegen streikende Proletarier. Im neuen Klassenkampf ist der Lieferstreik der Erdölstaaten an die Stelle des „Generalstreiks“ getreten. Wie gestern die Besitzer der „Ware Arbeitskraft“ weigern sich heute die Besitzer der „Ware Erdöl“, die Märkte der Produktionsmittelbesitzer zu beliefern. Leichter als die menschliche Energie kann die mineralische Energie dem Produktionsprozeß entzogen werden. Die „Ware menschliche Energie“ war aus dem Heer der Arbeitslosen immer ersetzbar. Die „Ware mineralische Energie“ kann durch den Beschluß einer begrenzten Zahl Verfügungsgewaltiger und durch die Entschlossenheit einiger Nationen einzelnen Märkten entzogen, anderen Märkten zugeleitet werden. Die feudalen Herren des Erdöls haben ihren Bestand an Gold, die nationalistischen Staaten des Erdölbesitzes haben ihre Nahrungsmittelreserven auf lange Zeit gesichert. Sicher könnte die „Aussperrung“ durch eine betroffene Gruppe von Industriestaaten den allein aus ihrem Erdölreichtum schöpfenden nationalen und feudalen GeseUschaften unvorhersehbaren Schaden zufügen. Durchaus vorhersehbar, fast auf die Stunde berechenbar sind aber die Folgen solchen Tuns für die Industriestaaten selbst. Das Versiegen des motorisierten Verkehrs wäre die relativ unwesentlichste davon. Überall würden sich über Nacht Industrielandschaften in wirtschaftliche Savannen verwandeln, im Sinne von Maos Marxismus der „revolutionären Kraft des Landes über die Stadt“: Das Land umlagert die Stadt. Das Land hat die Liefersperre über die Stadt verhängt. In der Stadt wachsen die revolutionären Kräfte. Auch Moskau erkennt das Menetekel.

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