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Der Löwe von Waterloo

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Der Weg vom politischen Hauptquartier der NATO in Brüssel-Evere zum 60 Kilometer weiter südlich gelegenen militärischen Kommandozentrum des Nordatlantikpaktes führt über Waterloo. Ein böses Omen?

Nur dann, wenn man aus der Sicht Napoleons urteilt, was freilich jeder beim Stichwort Waterloo tut. Man kann es aber auch umgekehrt sehen: Sieg eines alliierten Heeres der Engländer (unter Einschluß einer holländischbelgischen Division) und Preußen gegen den Aggressor.

Der massive gußeiserne Löwe auf dem 40 Meter hohen Hügel, dessen Erdmassen vor 150 Jahren belgische Frauen in Tragkörben herangeschleppt haben, ist ja auch das Symbol Englands und der Niederlande. - Dennoch beherrscht ringsum Napoleon die Cafe-und Wirtshausdekorationen: Faszination des Aggressors?

Hier haben am Abend der Schlacht des 18. Juni 1815 die siegreichen Feldherren Wellington und Blücher im Bauernhof „La Belle Alliance" einander beglückwünscht. Wie „schön" ist die Allianz, die nahe davon heute ihr militärisches Europa-Hauptquartier errichtet hat?

Irgendwie bezeichnend dafür ist die leidenschaftliche Debatte, die seit Wochen Norwegen schüttelt: Dürfen im Norden des Landes, das neben der Türkei von allen 15 NATO-Mitgliedsstaa-ten die einzige Direktgrenze mit der Sowjetunion hat, Vorratslager mit Haubitzen, Lafettenfahrzeugen, LKWs, Munition, Treibstoff und Lebensmitteln angelegt werden?

Eine österreichische Journalistengruppe kam gerade zurecht, als in Oslo Verteidigungsminister Thorvald Stoltenberg verkündete: Wir werden das Lager, das für eine im Ernstfall aus den USA einzufliegende Brigade von Marineinfanteristen bestimmt ist, nicht in Nord-, sondern in Mittelnorwegen errichten!

Jetzt müssen noch der Vorstand der Arbeiterpartei und die Parlamentarier zustimmen, und in der hitzigen Debatte ist immer wieder davon die Rede, daß man die Sowjets auch in Mittelnorwegen nicht provozieren soll.

Versteht sich. Aber wer provoziert hier wen? .

Jenseits der gemeinsamen Grenze, auf der Halbinsel Kola, ankert die größte Flotte der Geschichte und der heutigen Welt: 190 sowjetische Unterseeboote, 50 davon atomangetrieben und mit Interkontinentalraketen bestückt, dazu 330 Marineflugzeuge und 66 große Uberwasserschiffe vom Torpedoboot bis zum Flugzeugträger ...

Sie ist freilich nicht unmittelbar gegen Norwegen, sondern gegen den potentiellen Hauptgegner USA gezielt.

Im Konfliktfall freilich wäre Nord-wie Südnorwegen Angriffsziel Nummer eins der Sowjetarmada: Wer dieses besitzt, beherrscht die Meeresausgänge der Ostsee in den Atlantik; wer jenes kontrolliert, hat sämtliche atlantischen Verbindungswege zwischen Europa und Nordamerika in der Hand.

„Wenn der Antransport von Verstärkungen aus Ubersee und die Mobilisierung in Europa gesichert sind, könnte sich die Nordflanke voraussichtlich stabilisieren - wenn auch nur mit schweren Verlusten", verbreitet der Oberkommandierende der Allied Forces Northern Europe (Afnorth), der britische General Anthony Farrar-Hockley, realistisch gedämpften Optimismus.

Aber mit einer vertraglich festgelegten kernwaffenfreien Zone in Nordeuropa, von der seit dem jüngsten Besuch des finnischen Staatspräsidenten Urho Kekkonen in Moskau wieder die Rede ist, hat weder er noch sonst ein Afnorth-Verantwortlicher Freude.

„Nordeuropa ist derzeit ja atomwaffenfrei, aber auch für den Ernstfall eine Atomwaffenverteidigung auszuschließen,'wäre unverantwortlich, solange die UdSSR eigenes Territorium vom Kernwaffenabbau ausschließt," erinnert der General an fehlende Gegenseitigkeit.

Interkontinentale Kernwaffen aber bleiben vorläufig die einzige Austarierung des wachsenden Ubergewichtes der UdSSR bei Mittelstreckenraketen, denen laut Weißbuch 1980 der Bonner Regierung „auf westlicher Seite nichts Vergleichbares entgegengesetzt werden kann." Gleiches gilt für herkömmliche Waffen, wozu es im Weißbuch heißt:

„In Mitteleuropa und an den europäischen Flanken sind die konventionellen Kräfte des Warschauer Paktes, vor allem seine Landstreitkräfte, denen der NATO eindeutig überlegen." Allein bei Kampfpanzern beträgt das Verhältnis etwa 3:1- und Panzer sind, wie man weiß, klassische Angriffs-, nicht Verteidigungswaffen.

Deshalb hat die NATO vor einem Jahr für den Fall der Nichteinigung bei vorherigen Verhandlungen die Raketen-Nachrüstung und schon Ende 1977 die jährliche Realerhöhung der Verteidigungsausgaben um drei Prozent beschlossen. Bis heuer haben alle mitgehalten. 1981 werden nur noch die USA und das durch öl reichgewordene Norwegen um weitere dreiProzent anheben - die meisten wie Deutschland nur um 1,8 Prozent.

Das ist eines der Probleme, an denen sich der neue US-Präsident Ronald Reagan, bald versuchen wird. Ein anderes ist das leidige Problem der Standardisierung.

Nationale Prestigesucht, Firmeninteressen und Sorge um Arbeitsplätze haben ihren Anteil an der Tatsache, daß es noch immer 100 verschiedene Schiffstypen, 50 verschiedene Munitionstypen, 23 verschiedene Gruppen von Kampfflugzeugen, 41 verschiedene Schiffsgeschütztypen, 20 verschiedene Waffenkaliber (die Liste ist noch um vieles länger) in den NATO-Armeen gibt.

Typenbereinigung bleibt dennoch ein vordergründiges Problem im Vergleich zur Strategiebereinigung, die gleichfalls unerläßlich geworden ist. Als die NATO 1949 gegründet wurde, war die UdSSR noch keine Atom- und keine Weltseemacht.

Heute muß sich die Weltmacht USA der Weltmacht UdSSR im Atlantik wie im Pazifik, im Indischen Ozean und am Kap der guten Hoffnung stellen. Das verlangt, so auch der deutsche NATO-General Franz Uhle-Wettler, eine Neuformulierung der gesamten westlichen Verteidigungsstrategie.

Die NATO-Verbündeten sind einander zum Beistand nur bei Angriffen auf ihr jeweiliges Territorium verpflichtet. Sollen nun die USA den Westeuropäern die Öltransporte in der Golfregion, von denen sie viel stärker abhängen als Amerika, ohne Gegenleistung sichern?

Umgekehrt nagt an vielen Westeuropäern die Frage, ob ein US-Präsident wirklich noch bereit ist, für die Verteidigung europäischer Städte die eigenen zu riskieren.

Der Löwe von Waterloo blickt derzeit auf keine „schöne Allianz" hernieder. Eine bloße Charmeoffensive aus Washington wird ihre Probleme schwerlich lösen.

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