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Der Mann aus Karadii

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Die Räume des Hotels waren hoch und weiß mit vielen Spiegeln an den Wänden und hellblau und rosa überzogenen Stühlen. Manche allerdings waren auch dunkel und trüb mit geschnitzten Fensterrahmen und blauen Rauchschwaden über goldenen und silbernen Samovaren, in denen sich das halblaute Stimmengewirr zu fangen schien, gleichsam vibrierend in der Hitze und im Dunst der aufgetragenen Speisen. Die dunkelhäutigen Diener bewegten sich lautlos und sanft zwischen den sirrenden Ventilatoren. Sie waren weiß gekleidet, und ihre langfingrigen Hände schrieben immerfort irgendwelche Zeichen in die Luft, wenn sie unter sich waren und über die Gäste sprachen oder über das Küchenpersonal. Die Europäer aber (und es gab ihrer viele unter den Gästen) schwankten wie blaße Blüten auf schmalen Stengeln inmitten eines exotischen Treibens, ihre Gesten waren sparsam und sie unterhielten sich gedämpft, während winzige Schweißperlen auf ihrer Stirn standen. Ihre Augen, einer ungewohnten und schmerzenden Sonne müde, waren leicht gerötet, ihr langsamer, ein wenig schleppender Gang erinnerte an das schlaffe Flattern von Segeln am Halbmast, denen die nötige Brise fehlt. Die Frauen wirkten seltsam durchsichtig und verschlossen, aber wenn sie lachten war es wie klirrendes Glas, das irgendwo zerschellt. Doch dann gab es noch andere Frauen, deren Augen wie dunkle Bälle im weißen Feld hin- und herrollten, und die in ihren leuchtenden Kleidern und zwitschernden Stimmen an tropische Vögel mit buntem Gefieder erinnerten. Sie waren biegsam und schlank und bewegten sich so, als trügen sie Krüge durch die Straßen der Stadt.

Dieses Hotel mit seinen vielen Sälen und kostbar ausgestatteten Zimmern stand wie eine seltsame Unwirklich-keit in der schmutzigen Millionenstadt Bombay. An seinen Mauern brach sich heißes, dampfendes Leben, quirlte es mannigfaltig, tausendfach, in den farbigen Gewändern von Generationen, unter der brennenden Sonne von Jahrtausenden, im ewigen Gleichmaß, in ewiger Wiederkehr. Die Kinder von Bombay hatten schwarz geschminkte Augen und silberne Kettchen an Armen und Beinen. Und ihre Mütter buken das Brot am Straßenrand. Die Männer jedoch redeten und feilschten, und ihre Haut war trocken wie Pergament.

Aber das Meer war so wie alle Meere der Welt. Es roch faulig und nach toten Fischen. Und am Horizont die Schiffe waren wie ein Traum — sie hatten die Entfernung zwischen sich und das Ufer gelegt, und mit ihr das Ungesagte und den Wunsch, der neue Wünsche gebiert, sobald er erfüllt wird. Man konnte uiese Schiffe vom Hotel aus sehen. Aber sie waren viel zu durchsichtig und schmal, um wahr zu sein. Nicht so wie jene anderen, einfachen

Fischkutter in den Vororten von Bombay, dort, wo die Sluwis wie schmutzige Wunden aus der Erde brachen. Nicht so tatsächlich, nicht so unmittelbar im Hafen schaukelnd mit dicken, verfilzten Seilen am Ufer festgemacht und vertauten, braun glänzenden Rahen. Diese Schiffe (welche man vom Hotel aus sah) blieben wie ein leichter Duft im Gedächtnis haften. Sie besaßen keinerlei Sinnlichkeit. Ihr Erscheinen war wie ein Gedanke. Und so austauschbar.

Gäste, die eben angekommen waren, blieben oft zögernd an der Schwelle des Hotels stehen — so, als hätten sie Angst, sich dem schmeichelnden Lächeln der Diener und der kostbaren Eleganz der Eintrittshalle hinzugeben.

Doch sobald sie die Räume betreten hatten, waren sie dieser Atmosphäre meist auch schon erlegen. Und zugleich der Person, die dafür verantwortlich war: Karachiwalla, dem Mann aus Karachi. Groß und schwer, mit leicht vorquellenden Augen und ständig in den unvermeidlichen Dhoti gekleidet, hielt er die Fäden in der Hand. Man wußte, daß jeder — auch der Hotelbesitzer — unter seinem Einfluß stand, daß er die Geschicke des Hotels leitete und bestimmte. Aber darüber hinaus wußte man wenig über ihn.

Karachiwalla war immer und überall gegenwärtig: In den flimmernden irisierenden Abenden ebenso wie im sanften Hindämmern des Mittags, in den flüchtigen, wie verwischten Gesten der schönen Frauen, im breit angelegten Tritt der Männer, in einer halben Andeutung, in einem ausgesprochenen Satz. Mit geradezu unheimlicher Genauigkeit wußte er über alles Bescheid, was im Hotel geschah. So daß sich niemand — selbst wenn er noch so sehr darauf bedacht war — seiner Aufmerksamkeit entziehen konnte. Demnach fand sich auch jeder sehr bald in einer ausweglos scheinenden Situation, die einen einzigen Weg freigab, nämlich jenen zu Karachiwalla. Was jedoch in kürzester Zeit keine Betroffenheit mehr hervorrief, sondern im Gegenteil ein gewisses Entzük-ken, der Besucher fühlte sich getragen von einer Art Hochgefühl, das seinen Bewegungen und Schritten jene besondere Anmut verlieh, wie sie für die Gäste des Hotels charakteristisch war. Er wußte, er war zu einem kleinen Teilchen eines riesigen Komplexes geworden, Handlanger irgendwelcher umfangreicher Projekte, Teilhaber eines Vorganges, den er nicht wirklich begriff. Gleichzeitig afber sah er sich aufgehoben in einer großen Gemeinschaft, in der alles nach bestimmten Regeln verlief, und der Verantwortung über sein Tun und Lassen weitgehend enthoben, blieb er meist länger als vorgesehen, oder aher er kam bald wieder.

Manche der Gäste, deren Verhältnisse es gestatteten, verlegten sogar ihren ständigen Wohnsitz in das Hotel. Denn hier, in dieser kostbar abgezirkelten Atmosphäre einer müd-lasziven Lebensart, blieben sie von den Geschehnissen einer brutalen Welt verschont — Karachiwalla war dafür zuständig geworden. Er beriet die Geschäftsmänner und die blassen schönen Frauen, die Schmuggler, Schwarzhändler und die Abenteurer. Er erkannte Zusammenhänge, sah Auswege dort, wo niemand irgendwelche Möglichkeiten vermutete. E war gerissen und klug, unfehlbar und unschlagbar. Er glich einer großen fetten Spinne, die sich von den Fehlern, Lastern und menschlichen Schwächen nährte. Er spann und verwirrte, trennte und führte zusammen. Er wußte Bescheid über sämtliche Hintertürchen — und wenn es keine mehr gab, ließ er welche schaffen. Gleichzeitig aber half er bereitwillig und selbstlos: den Verschuldeten und den unglücklich Verliebten, den betrogenen Ehemännern und den politisch Verfolgten.

Er war ein gefürchteter Mann, dem man zugleich bedingungslosen Respekt erwies. Die einen hielten ihn für das Haupt einer Verbrecherbande, andere schrieben ihm eine politische Funktion zu. Wieder andere behaupteten, er helfe den Armen und Kranken, obwohl sich auch das nicht so recht erklären ließ, denn noch nie hatte jemand davon gehört, daß er für irgendeinen Rat oder Beistand Geld genommen hätte. Und so wurde seine Gestalt mehr und mehr zu einer Fabel, einer Legende, über die sich bestenfalls Vermutungen anstellen ließen, über die aber in keinem einzigen Punkt Gewißheit zu gewinnen war. Sobald er die Hotelhalle verlassen hatte, versank er in jene geschichtliche Anonymität, die dem Asiaten eigen ist.

Bis zu jenem denkwürdigen Tag.

Karachiwalla war bereits längere Zeit nicht im Hotel erschienen. Die Gäste begannen unruhig zu werden. Mißtrauen und Angst legten sich über den Hotelbetrieb, die Geschäftigkeit begann zu erlahmen.

War er verhaftet worden, hatte man ihn zur Rede gezwungen? Was hatte man dabei erfahren, wieweit war man vorgedrungen — wieviel wußte man bereits? Genug, um jeden einzelnen zu zerstören, um ihn an den Pranger zu stellen, in das höhnische Gelächter der Öffentlichkeit?

Oder war ihm vielleicht etwas zugestoßen, hatte er sein Wissen mitgenommen, ohne irgendetwas zurückzulassen? Hatte er sie alle verraten, indem er die Verantwortung für ihre Existenz auf sich nahm, um sie schließlich einer Wirklichkeit auszusetzen, die sie nicht mehr beherrschten?

Schließlich breitete sich das Gerücht aus, er sei gesehen worden, verändert, gebrochen, nicht Herr seiner selbst. Es hieß, er treibe sich in der Nähe des Hotels herum, erkenne niemanden wieder, führe Selbstgespräche und halte Reden vor einer Menge, in denen er von Verbrechen sprach und Schuld, von Vergeltung, Sühne und Vergebung.

Und dann kam er wieder. Doch wurde er fast nicht mehr erkannt.

Seine sonst immer sehr saubere Kleidung hing ihm verschmutzt am Körper, seine Augen blickten stumpf, so, als würden sie das Geschehen um sich gar nicht wahrnehmen — um jedoch plötzlich ein Flackern zu zeigen, worauf sich sein Gesicht schlagartig veränderte, der Kopf in unkontrollierten Zuckungen hin und her zu pendeln begann, während Arme und Beine kraftlos und wie gelähmt am Leibe baumelten.

Er betrat die Halle des Hotels, stellte sich in die Mitte des Raumes und begann zu warten. Reglos, mit gesenktem Kopf, als wäre er völlig in sich versunken.

Die Kunde vom Erscheinen Kara-chiwallas verbreitete sich mit unglaublicher Geschwindigkeit. Man erschien in den Türöffnungen und auf den Gängen, flüsterte aufgeregt und erging sich in Vermutungen. Schließlich begann sich die Halle zu füllen, die Gäste traten auf die Galerie und auch auf die Lauf gänge, die sich höher und höher bis in das letzte Stockwerk zogen. Der Hotelbesitzer und das Personal begannen sich vor dem Eingang aufzustellen, um etwaigen ungebetenen Besuchern den Eintritt zu wehren. Doch wagte es niemand, dem Mann aus Karachi zu nahe zu treten. Allzusehr war seine Person in die Sphäre des Unantastbaren gerückt.

Und dann zog Karachiwalla aus seinen weiten, lose hängenden Beinkleidern einen Bambusstab hervor, der in einer runden, geknüpften, ledernen Schnur endete und dessen Vorhandensein bis jetzt unbemerkt geblieben war und begann sich mit langsamen, weit ausholenden Bewegungen den Rücken zu schlagen.

Die Gäste schienen wie erstarrt: Die Geschäftsmänner und die blassen schönen Frauen, die Politiker und die unglücklich Verliebten, die Abenteurer, Schmuggler und die sanften Exoten. Sie alle verschmolzen zu einem stummen, bewegungslosen Bild, welches nur durch den weißen, mit bedächtigen Bewegungen und einem fast feierlichen Rhythmus sich selbst schlagenden Mannes belebt wurde. Keine Ohnmachtsanfälle, keine Schreie, kein Dazwischentreten. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Es geschah nichts. Sein Rücken färbte sich rot. Dann begann die Haut zu platzen. Kr schlug und schlug, als sei er davon besessen. Doch es kam keine Reaktion von den Gästen. Das Kolibrigeflatter fing sich in dieser Lähmung, die Abenteurer, Schmuggler und die Asiaten schwiegen. Und dieses Schweigen schwoll und schwoll, es wurde mächtig und lagerte sich wie eine große Angst über die Halle, während Karachiwalla schlug. Doch als die Spannung unerträglich geworden war, als die nächste Sekunde eine Entscheidung bringen mußte — da, plötzlich und ohne jeden Übergang, sackte dieser große schwere Mann in sich zusammen und blieb auf dem Boden liegen.

Die Gäste sahen sich nicht an, während sie in ihre Zimmer gingen. Viele von ihnen packten die Koffer und reisten noch am selben Tag ab. Diejenigen aber, die blieben, mieden einander wie eine Gefahr. Und bald suchten auch sie eine andere Unterkunft.

Im Hotel wurde es still. Personal mußte entlassen, Räume mußten geschlossen werden. Der Verputz blätterte von den Wänden, die ehemals von vielen Gerüchen geschwängerte Luft wurde dumpf und schwer. Und die lebendige Geschäftigkeit wich einem trostlosen Bild zunehmender Verwahrlosung.

Noch lange fürchteten die einstigen Gäste, dem Mann aus Karachi irgendwo in den Straßen Bombays zu begegnen. Aber er blieb verschwunden.

Zeichnungen: SUSANNE THALER

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