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Der Mann der schwersten Zeit

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Eine politische Landschaft ändert ihr Gesicht. Oder besser: Änderte es von einer Minute zur anderen. So abrupt wie noch nie in der Geschichte der Zweiten Republik. Und noch nie in der Geschichte der österreichischen Demokratie war eine große Partei so unmittelbar vor bevorstehenden Nationalratswahlen gezwungen, innerhalb von kürzester Frist eine personelle Entscheidung zu treffen, die zumindest im Falle eines Wahlsieges größte Bedeutung, für das Schicksal dieses Landes in den nächsten vier Jahren hätte. Jedermann in der großen Oppositionspartei sollte wissen, daß jetzt nicht nur eine wahlstrategische Entscheidung bevorsteht; und daß es eine gefährliche Illusion wäre, zu glauben, man könne mit einem neuen Mann an der Spitze genau dort fortsetzen, wo Karl Schleinzer am Nachmittag des 19. Juli in einer schicksalhaften Sekunde aufgehört hat.

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Eine politische Landschaft ändert ihr Gesicht. Oder besser: Änderte es von einer Minute zur anderen. So abrupt wie noch nie in der Geschichte der Zweiten Republik. Und noch nie in der Geschichte der österreichischen Demokratie war eine große Partei so unmittelbar vor bevorstehenden Nationalratswahlen gezwungen, innerhalb von kürzester Frist eine personelle Entscheidung zu treffen, die zumindest im Falle eines Wahlsieges größte Bedeutung, für das Schicksal dieses Landes in den nächsten vier Jahren hätte. Jedermann in der großen Oppositionspartei sollte wissen, daß jetzt nicht nur eine wahlstrategische Entscheidung bevorsteht; und daß es eine gefährliche Illusion wäre, zu glauben, man könne mit einem neuen Mann an der Spitze genau dort fortsetzen, wo Karl Schleinzer am Nachmittag des 19. Juli in einer schicksalhaften Sekunde aufgehört hat.

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Es scheint aber geboten, sich in diesen Tagen nicht nur über die sich nun bietenden Optionen nachzudenken, sondern auch darüber, welche Linie Karl Schleinzer vertreten hat. Das Resultat ist eher traurig, denn es läßt sich auf den Nenner bringen, daß Schleinzers Politik innerparteilich sehr oft eine Einmannpolitik war. Denn die einzige für die ÖVP lebensrettende Linie nach den sozialistischen Wahlsiegen 1970 und 1971 wurde zeitweise von Schleinzer als einzigem maßgeblichen Mann in der ÖVP verfolgt — die Linie der absoluten Zusammenarbeit der nach der Wahlniederlage demoralisierten und ihre Partikularziele egoistischer als je zuvor betreibenden Kräfte in Bünden und Ländern, aus denen die ÖVP besteht.

Der Mensch Karl Schleinzer, der nun plötzlich ach so „Habe Doktor Schleinzer“ wird gegenwärtig allenthalben so enthusiastisch gefeiert, daß sich der historische Karl Schleinzer dafür sehr genieren würde. Denn nicht nur in der Partei, auch und gerade in den Massenmedien hatte er zu Lebzeiten sehr wenige und nach seinem Tod plötzlich sehr viele Freunde, und sollte dies der sehr österreichische Beweis für die Qualitäten eines Mannes sein, dann war er ein Mann mit großen Qualitäten.

Aber was waren nun diese seine Qualitäten? Er tauchte als durchaus fähiger Verteidigungsminister

überaus plötzlich auf der bundespolitischen Szene auf. Die österreichische Gleichgültigkeit in Verteidigungsfragen und die dadurch bedingte Budgetknappheit ließen in der Zweiten Republik noch keinen Verteidigungsminister ein leichtes Leben. Schleinzer war jedenfalls ein hervorragender Organisator — was er wirklich konnte, zeigte er aber erst in der Funktion des Landwirtschaftsministers.

Beide Portefeuilles sind alles andere als image- und publicityträchtig. Aber als Landwirtschaftsminister hat Schleinzer Verdienste, die man fast als historisch bezeichnen kann. Er ist nicht nur der Vater der Grünen Pläne, die mittlerweile längst zur Institution geworden sind. Er wurde Landwirtschaftsminister in einer kritischen Phase für die österreichische Landwirtschaft, nämlich in einem entscheidenden Abschnitt eines Strukturwandels. Im

Gegensatz zu Vorgängern, die lieber über die Landflucht klagten, sie aber als Herausforderung zu Taten kaum zur Kenntnis nahmen, hat er diesen Strukturwandel nicht bekämpft, sondern als unumgänglich notwendig erkannt und unter Berücksichtigung ausländischer Vorbilder in Bahnen gelenkt. Er wurde in Österreich zum Promotor einer sehr differenzierten Agrarpolitik, deren letzte Weisheit keineswegs darin bestand, die Großen zu fördern und die Kleinen zugrundegehen zu lassen. Viele Kleine mußten zugrundegehen, viele andere Kleine, welche die Voraussetzung dafür mitbrachten, erhielten Spezialisierungschancen, so daß Österreich heute eine breite Schicht landwirtschaftlicher Spezialbetriebe besitzt, deren wirtschaftlicher Erfolg längst nicht mehr an ihren Besitz in Hektaren gekoppelt ist.

Aber erst die Wahlniederlagen der Jahre 1970 und 1971, in denen die ÖVP der ersten Alleinregierung der Zweiten Republik, die stärkste ÖVP, die es je gegeben hatte also, von einem Augenblick zum anderen zu einem Häuflein Elend wurde, war die Stunde Schleinzers. Was er damals geleistet hat, läßt sich vielleicht erst heute ermessen — reden konnte man zu seinen Lebzeiten darüber bestimmt nicht.

Denn dieser Karl Schleinzer war der. klassische „Antiheld“. Als Anti-held hat er die ÖVP vor dem Zerfall gerettet; vor dem Niedergang in ein Interregnum des bündischen und (quer durch die Bünde und zwischen den Ländern) personellen Jeder-ge-gen-Jeden.

Als Kompromißkandidat kam er 1971 nicht an die Macht — sondern an die Ohnmacht. Jedermann in der ÖVP weiß, daß er, wie so manche tragische Figur in der Geschichte, seiner Machtlosigkeit die „Machtposition“ verdankte, die kein wirklich Mächtiger dem anderen gönnte, weil er ohne Hausmacht war — erschien er darum ungefährlich?

Daß heute die ÖVP zwar alles andere als siegesgewiß, aber mit guten Chancen in einen Nationalratswahl-kampf gehen kann (falls sie sich nicht im Nachfolge-Schleinzer-Spiel selbst sabotiert), verdankt sie vor allem seinen außerordentlichen Qualitäten im „Nehmen“. Und gelegentlich, wenn er von einem „Parteifreund“ wieder eine Ohrfeige empfangen hatte, hielt er dann auch noch die andere Backe hin, — nicht aus Masochismus, sondern weil er wußte, warum er es tat.

Karl Schleinzer kannte sich und seine Situation besser, als ihm mancher zugetraut hat, aber er kannte auch die Situation seiner Partei. In den ersten Jahren seiner Obmann-schaft betrachtete er es als sein wichtigstes Ziel, den Zerfall der Partei zu verhindern. Sein Rezept, jdiesen Zerfall zu verhinden, war so einfach, wie die Opfer, die es ihm abverlangte, schwer waren. Seine innerparteiliche Strategie lief auf den (so ähnlich auch von ihm selbst formulierten) Satz hinaus: „Ehe die Bünde und Landesorganisatoren einander ohrfeigen, ist es schon besser, sie ohrfeigen den Parteiobmann!“

Es war wahrscheinlich die größte Enttäuschung im Leben dieses Karl Schleinzer, daß der Mann, den man heute ohne weiteres als den Einiger der,. großen Oppositionspartei^ bezeichnen kann, von Jahr > zu Jahr seinerseits zum Aggressionsziel gewisser innerparteilicher Selbstzer-fleischungstendenzen wurde. Daß er persönliche Schwierigkeiten mit den Massenmedien hatte, ist eine Binsenwahrheit. Tragisch für die ÖVP aber war und ist, daß vieles, was in den Massenmedien gegen Schleinzer geschrieben wurde, mit Hilfe der Massenmedien gegen Schleinzer ge-spieW wurde und keineswegs vom politischen Gegner kam, sondern von den mitunter auch politischen, vor allem aber persönlichen Gegnern in den eigenen Reihen. Was um so unverständlicher erscheint, als seine Gegenspieler niemals in der Lage waren, eine einigermaßen unangefochtene Alternative zum Bundesparteiobmann aufs Tapet zu bringen.

Karl Schleinzer war einer der wenigen in der ÖVP, denen vor allem die ÖVP wichtiger war.

Sehr wahrscheinlich wird seine Ankündigung, im Falle eines 'Wahlsieges der ÖVP eine Konzentrationsregierung zu versuchen, als sein politisches und persönliches Vermächtnis in den Wahlkampf eingehen. Da ja damit nur angekündigt wurde, was die ÖVP im Falle ihres Sieges täte, beweist die überaus starke Reaktion der SPÖ und Bruno Kreiskys, daß er damit immerhin an einen empfindlichen Nerv gerührt hat. Ein Wahlgag war es nicht — Karl Schleinzer war ein Mann der Zusammenarbeit, ein Mann der Zusammenarbeit mit politisch Andersdenkenden, ja, bis zur Selbstaufgabe, sogar mit seinen „Freunden“.

Er war auch alles andere als nur ein „verschlossener, kontaktscheuer Bürokrat“, als der er landläufig hingestellt wurde. Eher schon ein Kärntner in Wien, der,hier nicht besonders glücklich war, ein Mann, der, von Alfons Gorbach entdeckt und überraschend plötzlich in die Bundespolitik katapultiert wurde, hier in seiner Unsicherheit auf dem Medienparkett äußerste Zurückhaltung gegenüber der Presse als Selbstschutz betrieb und, ohnehin zurückhaltend im Kontakt, nie wieder loswurde.

Viel von der angeblichen Steifheit war einfach Empfindlichkeit. Publizistische Bosheitsakte gingen ihm durchaus nahe. In einem solchen Fall — nach einem wenige Monate zurückliegenden „Profil“-Artikel — prägte er das Wort von der „Hexenküche“. In solchen Phasen war er, heute kann man es sagen, nicht einmal in der Lage, eine Zeitung aufzuschlagen.

Wenn er konnte, entfloh er Wien. Und sei es für Stunden. Wenn er Wien hinter sich wußte, fühlte er sich freier; wenn er dann unterwegs war und nach der Stadtgrenze die ersten Felder auftauchten, dann-wechselte er das Thema — und ging vom Ärger des Tages zu den größeren Zusammenhängen über. Mancher hielt seine häufigen Fahrten zwischen Wien und Kärnten, oft genug selbst am Steuer, für Wahnsinn. Im gegenständlichen Fall hatte der Chauffeur zwar Urlaub, aber er wäre zur Verfügung gestanden. Karl Schleinzer wollte ihm nicht das Wochenende verderben. Auch das war typisch für ihn.

Er war zweifellos kein urbaner Mensch; aber er hatte kulturelle Interessen, interessierte sich für österreichische Literatur, las Dode-rer. Und wenn er zweifellos nicht in besonders hohem Maße von der Gabe des Humors gesegnet war — seinen Mitarbeitern gegenüber war er verläßlich und, wenn er beim anderen Sympathie fühlte, von entwaffnender Ehrlichkeit und Offenheit. Er fand Kontakt — vor allem, wo er das Gefühl hatte „anzukommen“. Beim einfachen Mann. Nicht im Gespräch mit Journalisten.

Konnte er nicht nach Kärnten fliehen, floh er zum kleinen Mann. Wahlreisen waren für ihn keine Strapaz.

Man kann, man muß es heute sagen: Er hatte, auf der anderen Seite des politischen Grabens, einen eloquenten, wendigen, das eleganteste Florett führenden Gegenspieler, aber selbst das Gefühl, sich nicht zum eigenen Nachteil von ihm zu unterscheiden. Was wirklich an ihm zehrte, das war der innerparteiliche Grabenkrieg.

Die ihn als Kandidaten nicht wollten, sind ihn nun los. Und sind betroffen. So haben sie sich das nicht vorgestellt. Und langsam beginnt mancher zu erkennen, was er an ihm hatte.

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